»Wo sind sie?« fragte eine harte, unsympathische Stimme.
»Wer?« antwortete eine andere. Ich glaubte, sie als die unseres Retters zu identifizieren.
»Die beiden Fremden. Sie sind in dieses Haus geflüchtet. Hast du sie gesehen?«
»Ich habe niemanden gesehen. Wenn sie hier im Haus waren, dann sind sie auf der anderen Seite wieder -« Etwas klatschte, und die Stimme brach mit einem schmerzhaften Wimmern ab.
»Sag die Wahrheit!« hörte ich wieder die erste Stimme. »Die beiden sind Verbrecher, Pri! Sie haben Leyman ermordet, und einer von ihnen hat auf Ben geschossen und ihn schwer verletzt. Wenn du sie deckst ...«
»Aber ich habe niemanden gesehen! Ihr ... ihr könnt ja selbst nachsehen, ob ich hier irgend jemanden verstecke!«
Die Männerstimme lachte böse. »Darauf kannst du dich verlassen. Los, Jungs - stellt die Bude auf den Kopf.«
Bannermann fuhr erschrocken zusammen und sog hörbar die Luft ein, schwieg aber weiter verbissen. Eine Zeitlang waren durch die dünne Wand polternde und krachende Laute zu hören, vermischt mit dem schweren Stampfen von Schritten und wütendem Fluchen. Mein Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu tun, als ich hörte, wie die Schranktür roh aufgestoßen und die Kleider von den Haken gerissen wurden. Schließlich traf sogar ein Kolbenhieb die Rückwand des Schrankes.
»Die sind wirklich nicht hier«, vernahm ich. »Sie müssen vorne raus sein«, fügte eine andere Stimme hinzu. »Oder über die Dächer. Aber die kriegen wir schon.« Wieder polterten Schritte, dann wurde die Tür unsanft aufgerissen. Glas klirrte.
»Du sagst uns sofort Bescheid, wenn du sie siehst, ist das klar?« hörte ich wieder die erste Stimme. Unser Retter antwortete irgend etwas, das ich nicht verstand, dann fiel die Tür krachend ins Schloß und schwere Schritte polterten die Treppe hinunter.
Bannermann atmete hörbar auf. »Das war knapp«, flüsterte er. »Eine halbe Minute später, und ...«
Er sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig. Diesmal hatten wir mehr als nur Glück gehabt. Unsere Rettung glich einem Wunder.
Ich sah auf, als die Schranktür abermals geöffnet und das Geräusch leichter Schritte lauter wurde. Knarrend schwang die Rückwand des Schrankes nach innen, und eine schmalschultrige, in ein einfaches braunes Gewand gehüllte Gestalt huschte geduckt zu uns herein.
Der Anblick verschlug mir für einen Moment die Sprache. Unser Retter hatte seinen Mantel abgelegt. Sein Gesicht war im hellen Sonnenschein deutlich zu erkennen. Es war ein Mädchen.
Im ersten Moment schätzte ich sie auf achtzehn, vielleicht neunzehn Jahre, dann, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und sich zu Bannermann und mir herumdrehte, erkannte ich, daß sie viel jünger sein mußte.
Vielleicht täuschte ich mich aber auch. Für einen Moment kreuzten sich unsere Blicke, und ich las in ihren dunklen Augen einen Ausdruck solchen Ernstes, daß ich meine erste Schätzung schon wieder für realistischer zu halten begann. Plötzlich lächelte sie, und es war ... Wissen Sie, wie es ist, wenn nach wochenlangem Regen zum ersten Mal ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke bricht, oder wenn man nach einem langen, kalten Winter das erste Mal wieder Vogelstimmen hört, wenn die Sonne aufgeht?
So war ihr Lächeln. Sie sagte kein Wort, sondern lächelte Bannermann und mich nur an, aber sie hatte eine Art zu lächeln, die einem Mann in einer Sekunde die Sinne verwirren konnte.
Fast eine Minute lang starrten Bannermann und ich sie nur an, und vermutlich hätten wir uns noch länger zum Narren gemacht und sie angeglotzt, wenn sie nicht schließlich von sich aus das Schweigen gebrochen hätte.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Sie sind in Sicherheit. Sie werden nicht wiederkommen.«
Ich schluckte, tauschte einen hilfesuchenden Blick mit Bannermann, versuchte aufzustehen und stieß mir abermals den Kopf an einem Balken.
»Ich ...«, stammelte ich. »Ich meine, wir ...«
»Warum setzen Sie sich nicht erst einmal?« unterbrach sie mich, noch immer lächelnd, aber jetzt auf eine andere, fast spöttische Art. »Die Gefahr ist vorüber. Und wir haben Zeit.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer einladenden Geste, eilte leichtfüßig zur Chaiselongue und ließ sich darauf nieder. Bannermann und ich folgten ihr, wenn auch zögernd und in gehörigem Abstand.
»Warum haben Sie das getan, Miß?« fragte Bannermann zögernd. »Sie ... Sie werden furchtbaren Ärger bekommen, wenn herauskommt, daß Sie uns geholfen haben.«
»Hören Sie mit dem albernen Miß auf«, sagte das Mädchen lächelnd. »Mein Name ist Priscylla - Pri, für meine Freunde. Und ich werde keinen Ärger bekommen, wenn Donhills Bande herausfindet, daß ich Sie verborgen habe, Captain Bannermann. Sie werden mich umbringen.«
»Um ...« Ich stockte, starrte sie erschrocken an und suchte einen Moment vergeblich nach Worten.
Priscylla winkte ab. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Craven.«
»Robert.«
»Robert, gut«, lächelte Priscylla. »Sie sind sicher hier. Der Mann, der diesen Geheimraum gebaut hat, lebt nicht mehr. Außer mir weiß niemand von diesem Zimmer. Ist es wahr, daß Sie Leyman umgebracht haben, Robert?«
Die Frage schockierte mich. »Ich ... nein«, sagte ich verwirrt. »Er ist tot, aber ...«
»Schade«, sagte Priscylla ruhig. »Dieser Mistkerl hätte es verdient.«
»War das Ihr Ernst?« fragte Bannermann, als hätte er ihre letzten Worte gar nicht gehört. »Daß sie Sie umbringen würden?«
Priscylla nickte. »Ja. Sie kennen Donhill nicht. Er ist kein Mensch, Captain, sondern ein Ungeheuer.«
»Aber warum?« fragte Bannermann verstört. »Ich meine - Robert und ich haben ihm nichts getan.«
Priscylla lachte, aber es klang bitter. »Sie sind Fremde, Captain, das reicht. Donhill hat schon Dutzende von Männern und Frauen getötet.«
»Donhill? Aber er ist...«
»Polizeibeamter?« So, wie Priscylla das Wort aussprach, hörte es sich wie eine Beschimpfung an. »O ja, das ist er, Captain. Der Mann, der in Goldspie für Ordnung sorgt, nicht wahr? Wie finden Sie unser kleines Städtchen? Hübsch, nicht?«
Bannermann antwortete nicht, aber Priscyllas Frage war auch keine von der Art gewesen, auf die man wirklich eine Antwort erwartete. »Goldspie«, murmelte sie. »Ein hübsches kleines Städtchen an der Küste, wie? Dieser ganze Ort ist eine einzige Mordgrube, Captain.« Sie setzte sich auf, beugte sich ein Stück vor und sah erst Bannermann, dann mich auf sonderbare Weise an. »Sie haben mich gefragt, warum ich Sie gerettet habe, Captain? Ich will es Ihnen sagen. Ich will hier weg. Ich will raus aus dieser Hölle, weg von hier, so weit wie möglich. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe.«
Allmählich begann ich zu begreifen. »Sie ... wollen Goldspie verlassen?«
Priscylla nickte. »Ja. Ich ... habe schon ein paarmal versucht, zu fliehen, aber sie haben mich immer wieder eingefangen. Donhill ist ein Teufel, Robert. Und sein Arm reicht weit. Allein schaffe ich es nicht.«
»Und Sie glauben, mit uns zusammen würde es Ihnen gelingen?« Ich seufzte. »Ich fürchte, Sie haben sich die falschen Verbündeten ausgesucht, Priscylla. Wir wissen selbst nicht, wie wir hier herauskommen.«
»Ich helfe Ihnen«, sagte Priscylla. Die Antwort kam so schnell, als hätte sie nur auf meine Worte gewartet. »Sobald die Sonne untergeht, bringe ich Sie hier heraus. Aber Sie müssen mich mitnehmen.«
Für eine Weile sagte keiner von uns ein Wort. Priscylla blickte mich an, und wieder glaubte ich, in ihren Augen einen Schmerz zu erkennen, den ich mir nicht erklären konnte.
»Sie riskieren Ihr Leben, Kind«, sagte Bannermann nach einer Weile. »Ist Ihnen das klar? Wenn Donhill wirklich der Verbrecher ist, für den Sie ihn halten ...«
»Er ist kein Verbrecher«, unterbrach ihn Priscylla scharf. »Er ist ein Teufel, Bannermann, und das meine ich ernst. Er und seine Bande haben sich mit dem Satan eingelassen, und sie zahlen mit dem Leben Unschuldiger für diesen Pakt.«