Gute Tante Maude! Sie mochte die liebenswerteste Frau sein, die jemals gelebt hat, aber von den Menschen verstand sie nichts. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht glauben, daß die Welt schlecht ist.
Aber sie ist es, und ich brauchte nur ein paar Tage, um es herauszufinden. Die sieben Dollar waren bald aufgebraucht. Für einen Burschen vom Lande wie mich gab es in der Stadt kaum eine Arbeit, und schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als zu stehlen und mich einer der Jugendbanden anzuschließen, deren Revier die Hafenbezirke der Stadt waren. Ich schlief an den Kais, arbeitete, wenn ich etwas fand, und stahl, wenn ich nichts fand. Jetzt, im nachhinein, ist es mir ein Rätsel, wie es mir gelungen ist - aber irgendwie konnte ich mich während der gesamten acht Jahre meiner zweifelhaften Karriere von allen wirklich schweren Verbrechen fernhalten; wenn meine Kameraden einen größeren Einbruch begingen oder gar ein Mord geschah (auch das kam vor), war ich nie dabei.
Und trotzdem wäre ich wahrscheinlich über kurz oder lang in einem Zuchthaus oder am Galgen gelandet - wenn ich nicht Randolph Montague getroffen hätte.
Randolph Montague, der Hexer. Ich habe erst später erfahren, daß man ihn so nennt. Als ich ihn das erste Mal traf, stand er mit dem Rücken zu mir, in einer lässigen Pose, die seiner eleganten Kleidung und seiner distinguierten Erscheinung widersprach, gegen den Pfahl einer Gaslaterne gelehnt und eine seiner dünnen schwarzen Zigarren im Mundwinkel. Und ich lag zwei Schritte hinter ihm im Schmutz einer Mülltonne im Dreck und überlegte, wie ich ihn am sichersten bewußtlos schlagen konnte, um ihm die Geldbörse abzunehmen. Ich wunderte mich ein wenig, was ein Mann wie er kurz nach Mitternacht in einer so verrufenen Gegend verloren haben mochte, noch dazu allein und offensichtlich unbewaffnet. Er wäre nicht der erste Fremde, der aus falsch verstandener Abenteuerlust alle guten Ratschläge in den Wind schlug und nach Dunkelwerden hier herunter zum Hafen kam, um später auf irgendeiner Cocktailparty erzählen zu können, wie mutig er doch war. Nun, er würde sich wundern, wenn er am nächsten Morgen mit brummendem Schädel und leerer Brieftasche aufwachte.
Vorsichtig richtete ich mich hinter meiner Deckung auf, spähte sichernd die Straße hinab und packte den Sandsack, den ich ihm über den Schädel zu ziehen gedachte, etwas fester. Der Fremde regte sich nicht, sondern paffte weiter an seiner Zigarre und schien darauf zu warten, daß ihm der Himmel auf den Kopf fiel (was er gleich tun würde). Aber ich blieb weiter reglos hocken und wartete. Ich hatte Zeit; die Streife war erst in gut zwei Stunden fällig, und kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat und diese Gegend kannte, hätte sich nach Dunkelwerden hierher getraut. Ich beobachtete ihn fast eine Viertelstunde, ohne daß er sich bewegt hätte. Schließlich schnippte er seine Zigarre fort, nahm eine neue aus einem schmalen, silbernen Etui, das er in der Westentasche trug - ich registrierte es genau und fügte der Liste der Dinge, die ich am nächsten Morgen meinem Hehler bringen würde, einen weiteren Posten hinzu -, und riß ein Streichholz an.
Und genau in diesem Moment sprang ich vor.
Ich weiß bis heute nicht, wie er es gemacht hat. Eigentlich weiß ich nicht einmal sicher, was er gemacht hat; der Abstand zwischen ihm und mir betrug nicht einmal ganz zwei Schritte, und ich bin sicher, daß ich nicht den geringsten Laut verursacht hatte. Wenn man acht Jahre in den Slums von New York überlebt hat, dann hat man gelernt, sich wie eine Katze zu bewegen - aber das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß ich auf dem Rücken lag, nach Luft schnappte und auf die Klinge des Degens starrte, die Montague mir gegen die Kehle hielt. Und dabei lächelte er immer noch und paffte an seiner Zigarre, als wäre nichts geschehen.
Er hätte mich ins Zuchthaus bringen können, damals. Die Gerichte in den Staaten sind verdammt kleinlich - ein sandgefüllter Strumpf wie der, den ich bei mir hatte, gilt mit etwas Pech und einem Richter, der Zahnschmerzen und eine grantige Frau zu Hause hat, bereits als tödliche Waffe, und mein Überfall hätte mir im besten Fall fünf Jahre (und im schlechtesten fünfundzwanzig) eingebracht, hätte Montague mich der Polizei ausgeliefert. Er hätte mich auch auf der Stelle töten können; niemand hätte auch nur eine mißtrauische Frage gestellt.
Aber er tat nichts dergleichen, sondern steckte im Gegenteil seinen Degen ein, half mir auf die Füße - und bot mir mit dem freundlichsten Lächeln der Welt eine Zigarre an.
»Sie haben ziemlich lange gebraucht, um sich zu Ihrem Entschluß durchzuringen, junger Mann«, sagte er. Es waren die ersten Worte, die er zu mir sprach, und ich werde sie niemals vergessen. Er hatte gewußt, daß ich hinter ihm auf der Lauer lag, die ganze Zeit über, und er hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, mich daran zu hindern. Ich ignorierte die Zigarre, die er mir anbot; weniger, weil ich sie nicht mochte, als vielmehr, weil ich viel zu perplex war, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können, aber Montague grinste mich weiter an und fragte mich auf seine schon fast übertrieben höfliche Art, ob ich ihm zu seinem Wagen folgen würde.
Er brachte mich in ein Lokal - einen dieser piekfeinen teuren Schuppen, in denen ein halbes Dutzend Kellner in gestärkten Hemden herumschwirren und ein Glas Wein soviel kostet, wie unsereins in einer Woche verdient - und wir redeten. Zuerst sprach er, aber nach und nach brachte er mich dazu, von mir zu erzählen: von meiner Jugend, dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, Tante Maude, meinem Leben hier in New York - alles. Ich dachte damals, es wäre der ungewohnte Champagner, der meine Zunge löste, aber heute bin ich mir sicher, daß es nur an ihm lag. Ich weiß nicht wie, aber Montague brachte mich dazu, ihm mehr über mich zu erzählen als jemals einem anderen Menschen zuvor. Wir unterhielten uns die ganze Nacht, und als uns der Oberkellner schließlich hinauskomplimentierte, ging draußen bereits die Sonne auf.
Zum Abschied schenkte mir Montague dann sein silbernes Zigarrenetui und fünfzig Dollar.
Ich habe die Geschichte keinem erzählt - es hätte mir sowieso niemand geglaubt -, und nach ein paar Wochen begann ich den merkwürdigen Fremden zu vergessen.
Aber viereinhalb Monate später war er wieder da, und diesmal suchte er mich.
Er war verändert. Der Streifen weißen Haares über seinem rechten Auge war breiter geworden, und in seinem Blick lag ein gehetzter, fast angstvoller Ausdruck, den ich nur zu gut kannte. Er wirkte um Jahre älter als in jener Nacht, in der ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Was er von mir wollte, war so einfach wie unglaublich: Mich. Er erzählte, daß er Amerika verlassen und nach England gehen würde, und er bat mich, ihn zu begleiten, offiziell als sein Sekretär, in Wirklichkeit als eine Art Mädchen für alles: Butler, Koch, Kutscher - und Leibwächter. Der letzte Teil seiner Eröffnung überraschte mich kaum noch. Ich habe den Ausdruck, der damals in seinen Augen stand, oft genug gesehen, um zu wissen, was in Randolph Montague vorging.
Er hatte Angst. Panische Angst.
Ich habe ihn nie gefragt, vor wem er davonlief, weder damals noch während der Überfahrt. Aber ich sagte zu. New York hat mir nie gefallen, und ich stehe auf dem Standpunkt, daß mir Amerika mehr genommen als gegeben hat - die fünfundzwanzig besten Jahre meines Lebens nämlich, die ich in Armut und Not verbracht hatte - und der Gedanke, auf diese Weise vielleicht eine zweite Chance zu bekommen und auf dem Kontinent noch einmal neu anfangen zu können, erschien mir verlockend.