»Sie sind verrückt«, entfuhr es Bannermann.
»Vielleicht«, antwortete Montague ungerührt. »Aber das ist nicht Ihr Problem, Captain. Ich bezahle für die Extraarbeit. Jeder Mann, der ein Boot besteigt und rudert, bekommt eine Prämie von fünfzig englischen Pfund sobald wir London erreicht haben.«
»Fünf ...« Bannermann schluckte sichtlich. »Wir brauchen zehn Mann pro Boot«, sagte er. »Das sind zweitausend Pfund, Montague.«
»Ich kann auch rechnen«, knurrte Montague wütend. »Und mein Geld nützt mir nichts mehr, wenn ich tot bin.« Er griff in die Westentasche, winkte mich heran und drückte mir einen winzigen silbernen Schlüssel in die Hand. »Geh in die Kabine, Robert«, sagte er. »Das ist der Schlüssel zu meiner Kiste. Öffne sie und bring mir die braune Aktenmappe.« Zu Bannermann gewandt, fügte er hinzu: »Ich habe einen Kreditbrief der Bank of England bei mir, Captain. Wenn Sie darauf bestehen, kaufe ich Ihr Schiff.«
Es war ungefähr das Falscheste, was er in diesem Augenblick tun konnte. Bannermann mochte ein gutmütiger Mensch sein, aber das, was Montague ihm jetzt anbot, hatte ungefähr die Qualität einer Ohrfeige. »Ich glaube, Sie können sich den Weg sparen, Mister Craven«, sagte er gepreßt. »Ich brauche Ihr Geld nicht. Und kein einziger Mann meiner Besatzung wird auf Ihren Wahnsinnsvorschlag eingehen und das Schiff durch diesen Nebel schleppen. Der Nebel wird abziehen, und über kurz oder lang werden wir auch wieder Wind bekommen, Mister Montague. Wir warten.«
Montague wollte widersprechen, aber er kam nicht mehr dazu.
Hinter unseren Rücken erscholl ein heller, platschender Laut; ein Geräusch, als breche etwas mit Urgewalt aus der Wasseroberfläche hervor und fiele gleich darauf zurück; dann ein Schrei, so spitz und gellend, wie ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte. Das Schiff erbebte wie unter einem Hieb. Montague, Bannermann und ich fuhren in einer einzigen Bewegung herum.
Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich erstarren. Es war kein Schrecken, keine Furcht, sondern etwas anderes, etwas, das viel, viel schlimmer war: eine eisige tödliche Leere, die sich wie eine lähmende Woge über meine Gedanken ergoß.
Der Nebel war noch dichter geworden und hüllte jetzt die gesamte vordere Hälfte des Schiffes ein. Aber er war nicht dicht genug, um den Blick auf die Reling zu verdecken. Besser gesagt, auf ein klaffendes Loch am Bootsrand, an dem sich die stabile, hölzerne Reling befunden hatte.
Die Bootsplanken waren wie mit einer Säge durchtrennt, und man konnte unschwer die Abdrücke riesiger, monströser Zähne im Holz erkennen. Und der Matrose, der noch vor Sekunden an jener Stelle gestanden hatte, war spurlos verschwunden ...
»Sie kommen.«
Quenton zuckte beim Klang der beiden Worte zusammen wie unter einem Hieb. Sein Blick irrte nervös durch die Scheune. Das geschlossene Tor und die vernagelten Fenster sperrten das Tageslicht aus und ließen die Gestalten der anderen zu unsicheren Schatten werden. Es war still; viel ruhiger, als es in einem Raum, in dem sich annähernd dreißig Personen aufhielten, hätte sein dürfen. Aber es war die Stille der Angst, die von den Menschen Besitz ergriffen hatte.
Leise - als fürchte er, durch ein zu lautes Geräusch den Mob draußen zu einem Angriff zu provozieren - erhob er sich, lehnte das entsicherte Gewehr gegen die Wand und trat vom Fenster zurück. Sofort huschte einer der anderen Männer herbei, nahm seinen Platz an dem vernagelten Fenster ein und schob den Lauf seines Gewehres durch einen der schmalen Schießscharten, die sie freigelassen hatten. Sie alle waren bewaffnet: mit Gewehren, Revolvern und Schrotflinten, einige auch nur mit Mistgabeln, Äxten oder großen Messern; selbst die Frauen, die sich in den hinteren Teil der Scheune zurückgezogen hatten und einen Schutzwall um das halbe Dutzend Kinder, das in Jerusalems Lot lebte, bildeten. Die unscheinbare Scheune hatte sich im Laufe der letzten zwanzig Minuten in eine Festung verwandelt. Wer immer sie stürmen wollte, würde einen hohen Blutzoll zahlen müssen.
Und trotzdem würden sie sterben. Quenton wußte es. Es war nicht einmal die Macht, die ihm dies verriet, sondern simples Kopfrechnen. Sie waren achtundzwanzig, die sechs Kinder und elf Frauen mitgezählt, und sie waren einfache Bauern und Jäger und hatten Angst, und dort draußen tobte ein aufgepeitschter Mob durch die Straßen, der nach Hunderten zählte und Blut sehen wollte. »Quenton?«
Quenton sah auf und erkannte das blasse Gesicht Marians, der Tochter seines Stiefbruders. Das Schrotgewehr in ihren schmalen Händen wirkte beinahe rührend. »Ja?«
»Wieso ... bist du hier?« fragte sie leise. Ihre Lippen zitterten, und obwohl sie fast flüsterte, spürte Quenton, daß jedermann in der Scheune ihre Worte aufmerksam verfolgte. Und daß sie auf seine Antwort warteten. Marian hatte nur die Frage ausgesprochen, die er in allen Gesichtern las, wenn er sich umsah. Sie waren ihm widerspruchslos hierher gefolgt, nachdem er Lyssas Haus verlassen und die Dorfbewohner zusammengerufen hatte. Aber sie alle wollten wissen, warum. »Warum bist du hier?« fragte Marian noch einmal. »Warum sind wir hier, Quenton?«
Durch das geschlossene Tor drangen Schreie. Ein Gewehr krachte, dann noch eines und noch eines, und irgend jemand begann schrill und hysterisch zu lachen. Irgendwo weiter entfernt war das Grölen der Menge zu hören. Aber es kam näher. Sehr schnell.
»Deshalb«, antwortete Quenton mit einer Kopfbewegung zum Tor. Nicht alle waren ihm gefolgt. Ein paar hatten versucht, sich in ihren Häusern und Kellern zu verbarrikadieren oder ihr Heil in der Flucht zu suchen. »Deshalb, Kind. Weil wir uns hier verteidigen können. Jeder, der durch dieses Tor kommt, wird sterben.«
»Das ist keine Antwort«, sagte Marian. In ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen, und als sie weitersprach, schien sie nur noch mit Mühe die Fassung zu bewahren. Sie schrie beinahe. »Du weißt genau, was ich meine, Quenton. Ihr ... ihr habt uns Sicherheit versprochen und Reichtum. Ihr habt gesagt, wir könnten hier in Ruhe leben und glücklich sein, und jetzt kommen sie, um uns zu töten!«
»Hör auf«, sagte Quenton leise. Aber Marian hörte nicht auf; im Gegenteil. Plötzlich ließ sie ihr Gewehr fallen, sprang mit einem halberstickten Schrei auf ihn zu und begann mit den Fäusten auf seine Brust einzuschlagen. »Ihr habt uns Sicherheit versprochen!« kreischte sie. »Ihr habt gesagt, ihr würdet uns beschützen, wenn sie einmal kämen! Wozu haben wir euch all die Jahre gedient? Wo ist die Macht, die ihr angeblich habt? Wo ...?«
Quenton packte sie grob bei den Schultern, stieß sie auf Armeslänge von sich fort und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Das Mädchen taumelte zurück, fiel auf ein Knie und preßte die Hand gegen ihre Wange. Quentons Finger malten sich deutlich auf ihrer Haut ab.
»Es ist nicht meine Schuld«, schrie er wütend. Er spürte, wie die anderen ihn anstarrten, und ihre Blicke kamen ihm vor wie Messer, die tief in seine Brust schnitten. Niemand sprach es aus, aber der Vorwurf war überdeutlich.
»Ich kann nichts dafür«, sagte er noch einmal. »Ich war bei Andara, bevor ich zu euch kam, aber sie wollte nicht kämpfen. Wir vier hätten sie aufhalten können, aber allein bin ich machtlos.«
»Und die Macht?« flüsterte Marian. »Der Pakt, den wir geschlossen haben? Wozu haben wir euch unsere Seelen verpfändet, wenn wir jetzt doch sterben müssen?«
»Ich kann sie nicht aufhalten«, sagte Quenton hilflos. »Ihr wißt so gut wie ich, daß es Roderick war, der uns diese Fremden auf den Hals gehetzt hat. Er ist es, der euch tötet, nicht die dort draußen. Sie merken es nicht einmal!«
»Aber er ist nur einer, und ihr seid vier.«
»Das sind wir nicht«, murmelte Quenton. »Lyssa, Andara und Lennard ziehen es vor zu sterben statt sich zu wehren. Werft es mir nicht vor, wenn sie feige sind.«