»Aber du!« beharrte Marian. »Du hast die Macht, Quenton. Du bist ein Hexer wie sie! Du hast es oft genug bewiesen. Rette uns!«
»Ich kann es nicht«, sagte Quenton verzweifelt. »Ich kann nicht gegen Hunderte kämpfen!«
»Rette uns!« beharrte Marian. »Du hast es versprochen. Du ...«
Ein einzelner Schuß krachte. Aus der Wand neben Quentons Schulter ragten plötzlich verkohlte Holzsplitter, und zwischen Marians Brüsten erschien ein kleines, rundes Loch. Das Mädchen stieß einen fast überraschten, seufzenden Laut aus, starrte Quenton noch eine halbe Sekunde lang aus schreckgeweiteten Augen an und kippte langsam nach vorne.
Jemand schrie, und der Mann, der Quentons Platz am Fenster eingenommen hatte, erwiderte das Feuer. Plötzlich krachten überall Schüsse. Männer, Frauen und Kinder schrien durcheinander, als die Angreifer aus Dutzenden von Gewehren gleichzeitig das Feuer eröffneten. Quenton warf sich mit einem Fluch zur Seite, rollte herum, als der Mann am Fenster plötzlich zusammensackte und der Boden rings um ihn herum unter den Einschlägen von Geschossen zu explodieren schien, und war mit einer katzenhaften Bewegung wieder auf den Füßen. Wieder peitschten Schüsse, eine ganze Salve diesmal. Einer der Fensterläden platzte wie unter einem gewaltigen Hammerschlag auseinander. Irgend etwas biß heiß und schmerzhaft in Quentons Schulter, aber er spürte den Schmerz kaum.
Im Zickzack rannte er durch den Raum, warf sich mit weit vorgestreckten Armen nach der Leiter, die zum Heuboden hinaufführte, und bekam die unterste Stufe zu fassen. Das Brüllen und Johlen der Meute draußen wurde immer lauter; gleichzeitig nahm das Schießen ab. Offensichtlich glaubten sie, mit den ersten paar Salven den Widerstand der Verteidiger gebrochen zu haben, und kamen nun näher heran. Ein wuchtiger Schlag traf die Tür. Einer der Männer riß sein Schrotgewehr an die Wange und schoß dicht hintereinander beide Läufe ab. Die Tür verschwand hinter einer Wolke explodierender Holzsplitter und Staub. Ein gellender Schrei drang von draußen herein, dann antwortete eine ganze Salve krachender Gewehrschüsse.
Quenton sah nicht mehr hin. So schnell er konnte, kletterte er die Leiter empor, zog sich mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung auf den Heuboden hinauf und blieb eine Sekunde lang keuchend und mit geschlossenen Augen liegen, ehe er sich hochstemmte und auf Händen und Knien zu der offenstehenden Luke über dem Scheunentor kroch. Auch hier war einer der Männer postiert gewesen. Er war tot. Seine Hände umklammerten noch das Gewehr, mit dem er versucht hatte, sein Leben und das seiner Familie zu verteidigen.
Quenton kämpfte den ohnmächtigen Zorn, den der Anblick in ihm auslöste, nieder, schob den reglosen Körper zur Seite und näherte sich vorsichtig der Luke.
Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Es war nicht einmal zehn Minuten her, daß er in die Scheune gekommen war, aber er erkannte die Stadt nicht wieder.
Jerusalems Lot brannte. Die Hälfte der noch nicht einmal zwei Dutzend Gebäude, aus denen das Dorf bestand, stand lichterloh in Flammen, und die Straße glich einem Tollhaus. Überall lagen Menschen, viel mehr, als Jerusalems Lot überhaupt Einwohner hatte. Die Angreifer mußten sich in ihrer Raserei gegenseitig niedertrampeln. Aber der Anblick erfüllte Quenton weder mit Zufriedenheit noch mit Triumph. Die aufgebrachte Menge dort unten bedeutete ihm nicht mehr als eine Herde wilder Tiere, die einem anderen, stärkeren Willen gehorchten. Quenton wußte selbst nur zu gut, wie leicht es war, Menschen zu beeinflussen. Je erregter sie waren, desto einfacher war es für jemanden, der sich mit Hexerei und Magie auch nur ein bißchen auskannte.
Und Roderick war ein Meister der Schwarzen Magie. Quenton war sich nicht einmal sicher, ob die vereinten Kräfte von Andara, Lyssa, Lennard und ihm selbst ausgereicht hätten, Roderick in einem offenen Kampf zu schlagen. Aber der Verräter hatte sich diesem Kampf nie gestellt, sondern war geflohen. Jetzt schickte er seine Kreaturen, dachte Quenton haßerfüllt um zu vollenden, wozu er selbst zu feige gewesen war.
Irgendwo unter ihm krachte ein Schuß. Die Kugel fuhr mit einem dumpfen Klatschen eine Handbreit neben Quentons Knie in den Holzboden und wirbelte Heu und trockenen Staub hoch.
Quenton zog sich hastig in den schwarzen Schlagschatten der Wand zurück, hob die Hand und machte eine rasche, kaum sichtbare Bewegung.
Unter ihm, im Herzen des aufgebrachten Mobs, der auf die Scheune zudrängte, ließ ein grauhaariger Mann sein Gewehr fallen, griff sich mit beiden Händen an die Kehle und versuchte vergeblich zu atmen. Er taumelte, brach in die Knie und wurde von den Nachdrängenden zu Boden gerissen.
Quenton atmete hörbar ein. Das Gebäude zitterte unter dem unablässigen Krachen von Schüssen, den Hieben von Gewehrkolben und Äxten, mit denen sich die Angreifer Zutritt zu schaffen versuchten, aber er schob alles von sich, drängte jeden bewußten Gedanken beiseite, versuchte, den Lärm und die Schreie unter sich zu ignorieren und sich ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er wußte sehr wohl, daß er das Unmögliche versuchte. Selbst zu viert hätten sie die aufgebrachte Meute kaum zurückhalten können - für ihn allein war es so, als wolle er mit bloßen Händen einen berstenden Staudamm zusammenhalten. Aber er würde nicht kampflos sterben.
Einer der Männer, die fünf Meter unter Quenton gegen das Tor hämmerten, erstarrte plötzlich, hob in einer langsamen, widerwilligen Bewegung das Messer, das er in der rechten Hand trug, - und nahm sich selbst das Leben. Er war tot, bevor sein Körper den zerwühlten Boden berührte.
Aber hinter ihm drängten hundert andere heran.
Bannermanns Hände zitterten. Er hatte kein Wort gesprochen, seit wir das Achterdeck verlassen hatten, und selbst jetzt schien er noch Mühe zu haben, seine Fassung nicht vollends zu verlieren. Sein Gesicht war weiß; nicht einfach blaß, sondern weiß.
»Was ist ... passiert?« krächzte er mühsam. Die Frage galt einem der Matrosen, die aus allen Richtungen herbeigeeilt waren und das Loch im Schiffsrumpf in weitem Kreis umstanden.
Der Mann schüttelte nervös den Kopf. »Ich ... weiß es nicht«, murmelte er. Sein Blick flackerte unstet, und in seinen Augen war deutlich Angst zu lesen.
»Verdammt, Mannings. Sie haben doch in der Nähe gestanden, als es passierte!« blaffte Bannermann. »Sie müssen etwas gesehen haben.«
»Ich ... es ... es ging zu schnell«, stotterte Mannings. »Es war plötzlich da und hat nach ihm geschnappt, und dann ...«
»Was war plötzlich da?« fragte Bannermann scharf.
Mannings senkte unsicher den Blick. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ein ... ein Ding. Ich konnte es nicht richtig erkennen. Es war wie ... wie eine Schlange, aber viel größer und dicker, und ... es war grün und ... und ...«
Bannermann keuchte. »Sie -«
»Lassen Sie ihn, Captain«, fiel ihm Montague rasch ins Wort. »Der Mann hat recht.«
Bannermann wollte auffahren, aber ein einziger Blick in Montagues Gesicht ließ ihn verstummen. Zwei, drei Sekunden lang hielt er Montagues Blick stand, dann wandte er sich mit einem Ruck um und senkte den Kopf. »Wahnsinn«, flüsterte er. »Das ist der helle Wahnsinn.«
»Es ist schlimmer, als ich dachte«, murmelte Montague. Die Worte galten mir, aber ich merkte es erst, als er mich am Arm berührte und mir mit einer Kopfbewegung andeutete, ihm zu folgen.
Ich erwachte wie aus einem Traum. Das furchtbare Geschehen - und vor allem Mannings Worte - hatten mich gelähmt. Wie eine Schlange hatte er gesagt. Aber viel größer und dicker ... und es war grün. Was er beschrieb, war genau das, was ich vorhin draußen im Nebel zu sehen geglaubt hatte.
»Robert!« Montagues Stimme klang warnend, und diesmal riß ich mich zusammen und scheuchte die Gedanken zurück, so gut ich konnte. »Nicht jetzt«, flüsterte er hastig, als ahne er meine nächste Frage voraus. »Ich erkläre dir alles, aber jetzt ist keine Zeit dazu. Komm mit.«