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Weder Bannermann noch einer seiner Matrosen nahm auch nur Notiz von uns, als wir zum Achterbau zurückgingen und Montague die Tür öffnete. Er ging so schnell, daß ich fast Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen. Seinen Schritten war nicht mehr die geringste Spur von Schwäche oder Unsicherheit anzumerken, aber ich registrierte es nur noch, ohne mich darüber zu wundern. Ich fühlte mich noch immer wie betäubt. Wir erreichten unsere Kabine. Montague drängte sich vor mir durch die Tür, schleuderte seinen Mantel achtlos auf das Bett und streckte fordernd die Hand aus. »Den Schlüssel, Robert.«

Ich gab ihm den kleinen, silbernen Schlüssel zurück, den er mir erst vor wenigen Minuten ausgehändigt hatte, trat neben ihn und half ihm, die schwere Seekiste unter dem Bett hervorzuziehen und auf den Tisch zu stellen. Es war nicht das erste Mal. Zu Anfang der Reise, bevor er krank wurde, hatte er die Kiste beinahe täglich geöffnet. Aber es war das erste Mal, daß er mich dabei zusehen ließ. Bisher hatte er mich stets aus dem Raum geschickt und sich eingeschlossen, bevor er den Deckel hochklappte. Und auch diesmal öffnete er ihn nicht gleich, sondern drehte den Schlüssel im Schloß, hob den Deckel eine Winzigkeit an und ließ ihn wieder zurücksinken.

»Ich muß dich um ein Versprechen bitten, Robert«, sagte er ernst. Ich nickte, schwieg aber weiter, und Montague fuhr nach einer winzigen Pause fort: »Was du jetzt siehst, muß auf ewig dein Geheimnis bleiben. Ganz gleich, was auch geschieht, du darfst niemals über den Inhalt dieser Kiste reden, Robert. Schwöre es mir.«

»Ich schwöre es«, antwortete ich rasch.

Aber Montague schüttelte den Kopf. »So nicht, Robert«, sagte er ernst. »Schwöre es bei deiner Seele.«

Unter anderen Umständen hätten die Worte und die Art, in der er sie aussprach, schlichtweg lächerlich gewirkt. Aber jetzt, nach allem, was geschehen war, hatte ich das Gefühl, von einer unsichtbaren eisigen Hand am Grund meiner Seele berührt zu werden. Plötzlich fror ich.

»Ich schwöre es«, murmelte ich. »Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.«

Montague lächelte, aber wie beinahe immer blieben seine Augen ernst. »Dann hilf mir.«

Er öffnete den Kistendeckel, trat zurück und winkte mir mit der Hand, neben ihn zu treten.

Ich wußte nicht, was ich erwartet hatte - aber im ersten Moment war ich enttäuscht. Die Kiste war eine ganz normale Kiste, vollgestopft mit Kleidungsstücken und allerlei Dingen, die man auf einer Reise benötigt. Obenauf lag die braune Aktenmappe, die er vorhin an Deck erwähnt hatte. Aber Montague schenkte weder ihr noch dem restlichen Inhalt irgendeine Beachtung, sondern fuhr mit spitzen Fingern über die Innenseite des Deckels. Ein leises, metallisches Knacken ertönte. Montague nickte zufrieden, vergrub die Hände in der Kiste und hob mit einem Ruck den gesamten Einsatz heraus. Darunter kam ein Geheimfach zum Vorschein, bis auf den letzten Fingerbreit gefüllt mit Büchern, farblosen Glasfläschchen und -gefäßen mit den verschiedenartigsten Substanzen und unterschiedlich großen, ledernen Etuis unbekannten Inhalts. Über allem lag ein dünner, grauer Schleier wie Staub oder transparente Spinnweben. Montague drückte mir den Koffereinsatz in die Hand, wartete ungeduldig, bis ich ihn auf meinem Bett abgeladen hatte, und winkte mich erneut zu sich heran.

»Das war es, was ich dir zeigen wollte, Robert«, sagte er. »Ich hätte das Geheimnis für mich behalten, aber es geht jetzt nicht mehr anders. Du mußt mir ein zweites Versprechen geben, Robert. Wenn ... ich sterben sollte, dann mußt du den Inhalt dieses Faches vernichten. Der Schaden, der entstehen könnte, wenn er in falsche Hände geriete, wäre unermeßlich.«

»Sterben? Aber ...«

»Ich weiß, wovon ich rede, Robert«, unterbrach mich Montague. »Du hast den Nebel gesehen, und du hast gesehen, was mit dem Matrosen passiert ist.«

»Aber ich verstehe es nicht«, murmelte ich hilflos.

»Das kannst du auch nicht, Junge«, antwortete Montague sanft. »Aber ich brauche trotzdem deine Hilfe. Das, was dort oben an Deck geschehen ist, war nur eine Warnung. Ich fürchte, der eigentliche Angriff steht uns noch bevor. Und ich weiß nicht, ob ich allein stark genug bin, ihn abzuwehren.«

»Angriff? Aber wer sollte ...?«

»Ich habe Feinde, Robert«, sagte er leise. »Mächtige Feinde. Ich fürchte, sie sind noch mächtiger, als ich bisher geglaubt habe.«

»Die, vor denen Sie aus New York geflohen sind?«

»Du weißt davon?«

Ich nickte. »Es ist nicht sehr schwer, zu erkennen, wenn ein Mann Angst hat«, sagte ich. »Ich habe es gleich gespürt.«

In seinen Augen erschien ein Ausdruck, der mich noch weiter verwirrte. Es schien, als freue er sich über das, was er soeben gehört hatte, wurde aber übergangslos wieder ernst. »Vielleicht finde ich später Zeit, es dir zu erklären, Robert«, fuhr er fort. »Jetzt muß das Wenige, das du ohnehin weißt, genügen. Ich werde verfolgt, und ich fürchte, ich habe auch dein und das Leben der Männer an Bord dieses Schiffes in Gefahr gebracht. Das Wesen, das du gesehen hast und das den Matrosen getötet hat, wird nicht eher ruhen, bis es seinen Auftrag erfüllt hat.« Er seufzte, wandte sich um und griff in die Kiste. Als seine Hand durch die graue Staubdecke stieß, schien eine rasche Wellenbewegung durch den Schleier zu laufen, als wäre er flüssig. Aber seine Haut war trocken, als er die Hand wieder zurückzog.

Auf seiner Handfläche lag ein winziges Medaillon. Seine Form erinnerte vage an einen fünfeckigen Stern, war aber gleichzeitig ganz, ganz anders. Ich hatte nie etwas Derartiges gesehen. Es war, als entzöge sich das Medaillon auf magische Weise jedem Versuch, es genau zu betrachten. Das einzig klar Erkennbare an ihm war ein daumennagelgroßer, blutroter Stein, der wie ein starres Auge in seinem Zentrum eingebettet war.

»Nimm es«, sagte Montague. »Nimm es und trage es bei dir, bis alles vorbei ist. Es wird dich beschützen.«

Gehorsam streckte ich die Hand aus und nahm das kleine Schmuckstück entgegen. Es war erstaunlich schwer, und als ich es genauer betrachtete und ins Licht hielt, sah ich, daß es aus purem Gold geformt war. Es fühlte sich warm an, warm und auf unbestimmte Weise weich, lebendig.

»Was ist das?« fragte ich.

Montague beugte sich wieder über seine Kiste und kramte in ihrem Inhalt herum, ohne daß ich genau erkennen konnte, was er tat. »Ein Talisman«, antwortete er. »Aber auch eine Waffe. Vielleicht die einzige, die uns vor dem Wesen, gegen das wir kämpfen werden, schützt.« Er richtete sich auf und klappte den Kistendeckel zu. Als er sich umdrehte, entdeckte ich eine dünne, goldene Kette um seinen Hals. An ihrem Ende hing ein fünfeckiger goldener Stern; ein genaues Ebenbild des kleinen Talismans, den ich in der Hand hielt, nur etwa dreimal so groß.

Aber das war beileibe nicht die einzige Veränderung, die mit ihm vonstatten gegangen war. Zum ersten Mal seit Wochen war Randolph Montague wieder der Mann, den ich vor sechs Monaten in New York kennengelernt hatte. Die tiefen Linien, die die Krankheit in sein Antlitz gegraben hatten, waren verschwunden, seine Haut hatte sich geglättet und wie von Zauberhand wieder einen gesunden, beinahe frischen Farbton angenommen, und auch seine Haltung wirkte deutlich straffer und kraftvoller als noch vor Augenblicken. Und er strahlte Kraft aus. Eine Kraft, die seine Gestalt wie eine unsichtbare Aura umgab.

»Großer Gott!« entfuhr es mir. »Was ... wie haben Sie das gemacht? Das ... das grenzt an Zauberei!«

Montagues Lächeln wurde ein ganz kleines bißchen spöttischer, als er auf mich zutrat und mich am Arm berührte. »Es grenzt nicht nur an Zauberei, Robert«, sagte er leise. »Es ist Zauberei - wenigstens würdest du es so nennen, wenn du es verstehen könntest.« Und plötzlich wurde er ernst. Sehr ernst. Der Blick seiner Augen war mit einemmal wie Eis. »Ich hätte es dir gern auf andere Weise erklärt, Junge«, sagte er. »Aber ich fürchte, du wirst alles sehr viel schneller lernen müssen, als gut ist. Mein Name ist nicht Randolph Montague, Robert.