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»Dieses Mal ist sie wirklich gesund. Das Krokodil hat es mir bestätigt.«

Lillian hörte durch das Verhallen der Glocken plötzlich den Ton Giuseppes. Der Wagen kam rasch die Serpentinen herauf und hielt. Sie wunderte sich, weshalb Clerfayt ihn heraufbrachte; es war das erste Mal seit seiner Ankunft. Wolkow stand auf und blickte über den Balkon hinab.

»Hoffentlich will er mit dem Wagen nicht Skifahren«, sagte er spöttisch.

»Sicher nicht. Warum?«

»Er hat ihn am Abhang hinter den Tannen geparkt. Neben der Übungswiese für Anfänger; nicht vor dem Hotel.«

»Er wird schon wissen, warum. Weshalb kannst du ihn eigentlich nicht leiden?«

»Das weiß der Teufel! Vielleicht, weil ich einmal so ähnlich war wie er.«

»Du!« erwiderte Lillian schläfrig. »Das muß aber lange her sein.«

»Ja«, bestätigte Wolkow bitter. »Das ist sehr lange her.«

* * *

Eine halbe Stunde später hörte Lillian den Wagen Clerfayts abfahren. Boris war vorher gegangen. Sie lag noch eine Weile, die Augen geschlossen, und blickte auf die schwankende Helligkeit unter ihren Lidern. Dann stand sie auf und ging nach unten.

Zu ihrem Erstaunen sah sie Clerfayt auf einer Bank vor dem Sanatorium sitzen. »Ich glaubte, Sie wären vorhin nach unten gefahren«, sagte sie und setzte sich neben ihn. »Habe ich bereits Halluzinationen?«

»Nein.« Er blinzelte in das starke Licht. »Das war Hollmann.«

»Hollmann?«

»Ja. Ich habe ihn ins Dorf geschickt, eine Flasche Wodka zu kaufen.«

»Mit dem Wagen?«

»Ja«, sagte Clerfayt. »Mit dem Wagen. Es war höchste Zeit, daß er endlich mal in die Karre kletterte.«

Man hörte den Motor wieder. Clerfayt stand auf und horchte. »Nun wollen wir einmal sehen, was er macht — ob er brav und fromm gleich wieder heraufkommt, oder ob er mit Giuseppe absaust.«

»Absaust? Wohin?«

»Wohin er will. Benzin ist genug im Tank. Damit kann er fast bis Zürich kommen.«

»Was?« sagte Lillian. »Was sagen Sie da?«

Clerfayt horchte wieder. »Er kommt nicht zurück. Er fährt die Dorfstraße entlang auf den See und die Chaussee zu. Sehen Sie, da ist er schon — hinter dem Palace Hotel. Gott sei Dank?«

Lillian war aufgesprungen. »Gott sei Dank? Sind Sie verrückt? Sie schicken ihn los in einem offenen Sportwagen? Nach Zürich, wenn er will? Wissen Sie nicht, daß er krank ist?«

»Gerade deshalb. Er hat schon geglaubt, er hätte verlernt zu fahren.«

»Und wenn er sich eine Erkältung holt?«

Clerfayt lachte. »Er ist warm angezogen. Und Rennfahrern geht es mit Wagen so wie Frauen mit Abendkleidern — wenn sie ihnen Spaß machen, erkälten sie sich nie darin.«

Lillian starrte ihn an. »Und wenn er sich trotzdem eine Erkältung holt! Wissen Sie, was das hier oben bedeutet? Wasser in den Lungen, Verwachsungen, schwere Rückfälle. Man kann sich hier den Tod an einer Erkältung holen!«

Clerfayt betrachtete sie. Sie gefiel ihm so bedeutend besser als am Abend vorher. »Das sollten Sie sich merken, wenn Sie abends, statt im Bett zu bleiben, in die Palace Bar ausreißen«, sagte er. »In einem dünnen Kleid und seidenen Schuhen.«

»Das hat nichts mit Hollmann zu tun!«

»Sicher nicht. Aber ich glaube an die Therapie des Verbotenen. Bis jetzt dachte ich, Sie auch!«

Lillian war einen Augenblick verwirrt. »Nicht für andere«, sagte sie dann.

»Gut. Die meisten Menschen glauben daran immer nur für andere.«

Clerfayt blickte zum See hinunter. »Da ist er! Sehen Sie ihn? Hören Sie nur, wie er die Kurven nimmt! Er hat das Schalten noch nicht verlernt. Heute abend wird er ein anderer Mensch sein.«

»Wo? In Zürich?«

»Überall. Auch hier.«

»Er wird heute abend mit Fieber im Bett liegen.«

»Das glaube ich nicht. Und wenn schon! Besser ein bißchen Fieber, als daß er mit hängenden Ohren um den Wagen herumschleicht und glaubt, er sei ein Krüppel.«

Lillian wandte sich scharf um. Krüppel, dachte sie. Weil er krank ist? Was erlaubt sich dieser ahnungslose, gesunde Rohling neben ihr? Hielt er sie vielleicht auch für einen Krüppel? Ihr fiel der Abend in der Palace Bar ein, als er mit Monte Carlo telefoniert hatte. Hatte er da nicht auch von einem Krüppel geredet? »Ein bißchen Fieber kann hier rasch zu einer tödlichen Lungenentzündung werden«, sagte sie feindselig. »Aber das kümmert Sie wohl nicht! Sie können dann ja sagen, es sei auch ein Glück für Hollmann gewesen, gestorben zu sein, nachdem er noch einmal in einem Sportwagen gesessen und geglaubt habe, ein großer Rennfahrer zu werden.«

Sie bereute es sofort. Sie verstand nicht, warum sie plötzlich in einem solchen Aufruhr war. »Sie haben ein gutes Gedächtnis«, sagte Clerfayt amüsiert. »Ich habe das schon früher bemerkt. Aber beruhigen Sie sich; der Wagen ist nicht so schnell, wie er sich anhört. Mit Ketten auf den Reifen kann man nicht gerade ein Renntempo fahren.« Er legte einen Arm um ihre Schultern. Sie schwieg und rührte sich nicht. Sie sah, wie Giuseppe klein und schwarz hinter dem Walde am See hervorkam. Kompakt wie eine dröhnende Hummel schoß er durch den weißen Glanz, der in der Sonne über dem Schnee hing. Sie hörte die Schläge des Motors und das Echo, das die Berge sich zuwarfen. Der Wagen hielt auf die Straße zu, die über den Pass auf die andere Seite führte, und auf einmal wußte sie, daß das es war, was sie so erregte. Sie sah, wie der Wagen hinter einer Kurve verschwand. Nur noch der Motor war jetzt da, eine rasende, rufende Trommel, die zu einem unbekannten Aufbruch rief und die sie tiefer spürte wie nur als Lärm.

»Hoffentlich reißt er nicht wirklich aus«, sagte Clerfayt.

Lillian antwortete nicht sofort. Ihre Lippen waren trocken. »Warum soll er ausreißen?« sagte sie dann mühsam. »Er ist doch fast geheilt. Warum soll er da alles riskieren?«

»Manchmal riskiert man es gerade dann.«

»Würden Sie es an seiner Stelle riskieren?«

»Das weiß ich nicht.«

Lillian holte Atem. »Würden Sie es tun, wenn sie wüssten, daß Sie nie wieder gesund würden?« fragte sie.

»Anstatt hier zu bleiben.«

»Anstatt hier ein paar Monate länger zu vegetieren.« Clerfayt lächelte. Er kannte andere Arten von Vegetieren. »Es kommt darauf an, was man darunter versteht«, sagte er.

»Vorsichtig zu leben«, erwiderte Lillian rasch.

Er lachte. »Danach müssen Sie nicht gerade einen Rennfahrer fragen.«

»Würden Sie es tun?«

»Ich habe keine Ahnung. So etwas weiß man nie vorher. Vielleicht ja, um noch einmal an mich zu reißen, was Leben heißt, ohne Rücksicht auf Zeit — aber vielleicht würde ich auch nach der Uhr leben und um jeden Tag geizen und jede Stunde. Das weiß man nie. Ich habe da merkwürdige Überraschungen erlebt.«

Lillian zog ihre Schulter unter Clerfayts Arm weg. »Müssen Sie das nicht vor jedem Rennen mit sich abmachen?«

»So etwas sieht dramatischer aus als es ist. Ich fahre nicht aus Romantik. Ich fahre für Geld, und weil ich nichts anderes kann — nicht aus Abenteuerlust. Abenteuer habe ich in unserer verdammten Zeit genug gehabt, ohne es zu wollen. Sie wahrscheinlich auch.«

»Ja«, erwiderte Lillian. »Aber nicht die richtigen.«

Sie hörten plötzlich den Motor wieder. »Er kommt zurück«, sagte Clerfayt.

»Ja«, wiederholte sie und holte tief Atem. »Er kommt zurück. Sind Sie enttäuscht?«

»Nein. Ich wollte nur, daß er den Wagen einmal fährt. Das letzte Mal, als er darin saß, hatte er seinen ersten Blutsturz.«

Lillian sah Giuseppe auf der Chaussee heranschießen. Sie konnte es plötzlich nicht ertragen, Hollmanns strahlendes Gesicht sehen zu müssen. »Ich muß hinein«, sagte sie hastig. »Das Krokodil sucht mich bereits!« Sie wendete sich zum Eingang. »Und wann fahren Sie über den Pass?« fragte sie.

»Wann Sie wollen«, erwiderte Clerfayt. Es war Sonntag, und Sonntage im Sanatorium waren immer schwerer zu ertragen als die Wochentage. Sie hatten eine trügerische Ruhe ohne die Routine der Wochentage. Die Arzte kamen nur in die Zimmer, wenn es notwendig war, so daß man glauben konnte, man sei gesund. Dadurch aber waren die Kranken sonntags um so unruhiger, und die Schwester mußte oft genug abends Bettlägerige in Zimmern aufsammeln, in die sie nicht gehörten.