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»Ferrer. In einem albernen, kleinen Mistrennen an der Küste.«

»Tot?«

»Noch nicht. Aber man hat ihm ein Bein amputiert. Und das verrückte Weib, das mit ihm herumgezogen ist, die falsche Baronin, weigert sich, ihn zu sehen. Sie sitzt im Spielsaal und heult. Sie will keinen Krüppel. Komm jetzt und gib mir einen Schnaps. Mein letzter Kognak ist im Rachen eines Schneepflugführers verschwunden, der vernünftiger ist als wir; sein Wagen fährt nicht über fünf Kilometer die Stunde.«

* * *

Sie saßen in der Halle an einem kleinen Tisch neben dem Fenster. Clerfayt sah sich um. »Sind das alles Kranke?«

»Nein. Auch Gesunde, die die Kranken besuchen.«

»Natürlich! Und die mit den blassen Gesichtern sind die Kranken?«

Hollmann lachte. »Das sind die Gesunden. Sie sind blaß, weil sie erst vor kurzem heraufgekommen sind. Die andern, die braun wie Sportsleute sind, sind die Kranken, die schon lange hier sind.«

Ein Mädchen brachte ein Glas Orangensaft für Hollmann und eine kleine Karaffe Wodka für Clerfayt.

»Wie lange willst du bleiben?« fragte Hollmann.

»Ein paar Tage. Wo kann ich wohnen?«

»Am besten im Palace Hotel. Da ist eine gute Bar.«

Clerfayt blickte auf den Orangensaft. »Woher weißt du das?«

»Wir gehen dahin, wenn wir hier mal ausreißen.«

»Ausreißen?«

»Ja, manchmal nachts, wenn wir uns als Gesunde fühlen wollen. Es ist verboten, aber wenn der Cafard einen erwischt, ist es besser, als eine erfolglose Diskussion mit Gott darüber zu führen, warum man krank sei.« Hollmann holte eine flache Flasche aus der Brusttasche und goß einen Schluck in sein Glas.

»Gin«, sagte er. »Hilft auch.«

»Dürft ihr nicht trinken?« fragte Clerfayt.

»Es ist nicht ganz verboten; aber so ist es einfacher.«

Hollmann schob die Flasche zurück in die Tasche.

»Man wird ziemlich kindisch hier oben.«

Ein Schlitten hielt vor dem Eingang. Clerfayt sah, daß es derselbe war, dem er auf der Straße begegnet war. Der Mann mit der schwarzen Pelzkappe stieg aus.

»Weißt du, wer das ist?« fragte Clerfayt.

»Die Frau?«

»Nein, der Mann.«

»Ein Russe. Er heißt Boris Wolkow.«

»Weißrusse?«

»Ja. Aber zur Abwechslung kein früherer Großfürst und nicht arm. Sein Vater soll zur rechten Zeit ein Konto in London eröffnet haben und zur falschen Zeit in Moskau gewesen sein; er wurde erschossen. Die Frau und der Sohn kamen heraus. Die Frau soll nußgroße Smaragde in ihr Korsett eingenäht gehabt haben. 1917 trug man noch Korsetts.«

Clerfayt lachte. »Du bist ja ein wahres Detektivbüro! Woher weißt du das alles?«

»Hier weiß man bald alles über einander«, erwiderte Hollmann mit einer Spur von Bitterkeit. »In zwei Wochen, wenn der Sportbetrieb vorbei ist, ist dies Dorf nichts anderes mehr als ein kleines Klatschnest für den Rest des Jahres.«

Eine Gruppe schwarzgekleideter kleiner Leute drängte sich hinter ihnen vorbei. Sie unterhielten sich lebhaft auf spanisch. »Für ein kleines Dorf scheint ihr ziemlich international zu sein«, sagte Clerfayt.

»Das sind wir. Der Tod ist immer noch nicht chauvinistisch.«

»Dessen bin ich nicht mehr so ganz sicher.« Clerfayt blickte zur Tür. »Ist das da die Frau des Russen?« Hollmann sah sich um. »Nein.«

Der Russe und die Frau kamen herein. »Sind die beiden etwa auch krank?« fragte Clerfayt.

»Ja. Sie sehen nicht so aus, was?«

»Nein.«

»Das ist oft so. Eine Zeitlang sieht man aus wie das blühende Leben. Dann nicht mehr; aber dann läuft man auch nicht mehr herum.«

Der Russe und die Frau blieben neben der Tür stehen. Der Mann redete eindringlich auf die Frau ein. Sie hörte ihm zu, schüttelte dann heftig den Kopf und ging rasch nach hinten in die Halle. Der Mann sah ihr nach und wartete einen Augenblick; dann ging er nach draußen und stieg in den Schlitten.

»Sie scheinen Streit zu haben«, sagte Clerfayt, nicht ohne Genugtuung.

»So etwas passiert alle Augenblicke. Jeder wird hier nach einiger Zeit etwas verrückt. Gefangenenlager-Psychose. Die Proportionen verschieben sich; Kleinigkeiten werden wichtig, und Wichtiges wird nebensächlich.«

Clerfayt sah Hollmann aufmerksam an. »Bei dir auch?«

»Bei mir auch. Man kann nicht immer auf denselben Punkt starren.«

»Wohnen die beiden auch hier?«

»Die Frau; der Mann wohnt außerhalb.«

Clerfayt stand auf. »Ich fahre jetzt ins Hotel. Wo können wir zusammen zu Abend essen?«

»Hier. Wir haben ein Esszimmer, in dem Gäste erlaubt sind.«

»Gut. Wann?«

»Um sieben. Ich muß um neun zu Bett. Wie in der Schule.«

»Wie beim Militär«, sagte Clerfayt. »Oder vor einem Rennen. Erinnerst du dich noch, wie unser Rennleiter uns in Mailand wie Hühner ins Hotel scheuchte?«

Hollmanns Gesicht hellte sich auf. »Gabrielli? Ist er noch da?«

»Natürlich. Was kann ihm schon passieren? Rennleiter sterben im Bett — so wie Generäle.«

Die Frau, die mit dem Russen hereingekommen war, kam zurück. Sie wurde am Ausgang von einer grauhaarigen Frau aufgehalten, die leise und scharf etwas zu ihr sagte. Sie erwiderte nichts und drehte sich um. Unschlüssig blieb sie stehen, dann sah sie Hollmann und kam zu ihm herüber. »Das Krokodil will mich nicht mehr herauslassen«, flüsterte sie. »Es behauptet, ich hätte nicht ausfahren dürfen. Es müsse mich dem Dalai Lama melden, wenn ich es noch einmal versuche —«

Sie hielt inne. »Dies ist Clerfayt, Lillian«, sagte Hollmann. »Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Er ist überraschend gekommen.«

Die Frau nickte. Sie schien Clerfayt nicht wieder zu erkennen und wandte sich aufs neue Hollmann zu. »Sie behauptet, ich müsse ins Bett«, sagte sie ärgerlich. »Nur, weil ich vor ein paar Tagen etwas Fieber gehabt habe. Aber ich lasse mich nicht einsperren. Nicht heute abend! Bleiben Sie auf?«

»Ja. Wir essen in der Vorhölle.«

»Ich komme auch.«

Sie nickte Clerfayt und Hollmann zu und ging zurück.

»Das alles muß dir tibetanisch vorkommen«, sagte Hollmann. »Die Vorhölle heißt hier der Raum, in dem Gäste zugelassen werden. Der Dalai Lama ist natürlich der Professor, das Krokodil die Oberschwester —«

»Und die Frau?«

»Sie heißt Lillian Dunkerque, Belgierin mit einer russischen Mutter. Die Eltern sind tot.«

»Warum ist sie wegen solcher Lappalien so aufgeregt?«

Hollmann hob die Schultern. Er wirkte plötzlich müde. »Ich habe dir schon gesagt, daß alle hier etwas verrückt werden. Besonders, wenn jemand gestorben ist.«

»Ist jemand gestorben?«

»Ja, eine Freundin von ihr. Gestern, hier im Sanatorium. Es geht einen nichts an, aber irgend etwas stirbt doch immer mit. Etwas Hoffnung wahrscheinlich.«

»Ja«, sagte Clerfayt. »Aber das ist überall so.«

Hollmann nickte. »Sie fangen hier an zu sterben, wenn es Frühling wird. Mehr als im Winter. Merkwürdig, was?«

2

Die oberen Stockwerke des Sanatoriums sahen nicht mehr aus wie ein Hotel; sie waren ein Krankenhaus. Lillian Dunkerque blieb vor dem Zimmer stehen, in dem Agnes Somerville gestorben war. Sie hörte Stimmen und Lärm und öffnete die Tür.

Der Sarg war nicht mehr da. Die Fenster standen offen, und zwei Putzfrauen waren dabei, das Zimmer zu scheuern. Wasser planschte am Boden, es roch nach Lysol und Seife, die Möbel waren umgekehrt, und das elektrische Licht stach grell in jeden Winkel des Raumes.

Lillian glaubte einen Augenblick in ein falsches Zimmer gekommen zu sein. Dann sah sie, hoch auf einen Schrank geworfen, den kleinen Plüschbären, der die Maskotte der Toten gewesen war. »Hat man sie schon abgeholt?« fragte sie.

Eine der Putzfrauen richtete sich auf. »Sie ist auf Nummer sieben gebracht worden. Wir müssen hier saubermachen. Morgen früh kommt schon eine Neue.«