Выбрать главу

»Danke.«

Lillian schloß die Tür. Sie kannte Nummer sieben; es war ein kleines Zimmer neben dem Gepäckaufzug. Die Toten wurden dahin gebracht, weil sie von da leicht nachts mit dem Aufzug nach unten zu schaffen waren. Wie Koffer, dachte Lillian. Und hinter ihnen wusch man mit Seife und Lysol ihre letzten Spuren fort.

In Zimmer sieben brannte kein Licht. Es waren auch keine Kerzen mehr da. Der Sarg war bereits geschlossen. Man hatte den Deckel über das schmale Gesicht und das leuchtende, rote Haar gestülpt und ihn zugeschraubt. Alles war vorbereitet zum Transport. Die Blumen waren vom Sarg genommen worden; sie lagen in einem Stück Wachstuch auf einem Tisch nebenan. Das Wachstuch hatte Ringe mit Schnüren, so daß man die Blumen mit einem Griff transportieren konnte. Die Kränze lagen daneben, übereinander geschichtet, wie Hüte in einem Hutgeschäft. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und die Fenster standen offen. Es war sehr kalt im Zimmer. Der Mond schien hinein.

Lillian war gekommen, um die Tote noch einmal zu sehen. Es war zu spät. Niemand würde das blasse Gesicht und das leuchtende Haar, das einmal Agnes Somerville gewesen war, jemals wieder sehen. Man würde den Sarg diese Nacht heimlich hinunterbringen und ihn auf einem Schlitten zum Krematorium transportieren. Dort würde er unter dem plötzlichen Ansturm des Feuers zu brennen beginnen, das rote Haar würde noch einmal knistern und Funken sprühen, der starre Körper würde sich in den Flammen noch einmal aufbäumen, als wäre er wieder lebendig geworden — und dann würde alles zusammensinken zu Asche und Nichts und ein bißchen fahler Erinnerung.

Lillian blickte auf den Sarg. Wenn sie noch lebte! dachte sie plötzlich. Konnte es nicht sein, daß sie noch einmal zu sich gekommen war in diesem unerbittlichen Kasten? Gab es das nicht manchmal? Wer wußte denn, wie oft das geschah? Man kannte nur die wenigen Fälle, in denen Scheintote gerettet worden waren, aber wer wußte, wie viele schweigend erstickt waren, die man nie gefunden hatte? Konnte es nicht sein, daß Agnes Somerville jetzt, gerade jetzt, in der engen Dunkelheit der raschelnden Seide zu schreien versuchte, mit vertrockneter Kehle, ohne einen Laut hervorbringen zu können?

Ich bin verrückt, dachte Lillian; was denke ich da? Ich hätte nicht hierher gehen sollen! Warum habe ich es getan? Aus Sentimentalität? Aus Verwirrung? Oder aus dieser entsetzlichen Neugier heraus, noch einmal in ein totes Gesicht zu starren wie in einen Abgrund, dem man vielleicht doch noch eine Antwort entreißen kann? Licht, dachte sie, ich muß Licht machen!

Sie ging zur Tür zurück; aber plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Sie glaubte ein Knistern gehört zu haben, sehr leise, aber deutlich, als kratzten Nägel auf Seide. Rasch drehte sie den Schalter an. Das scharfe Licht der ungeschützten Lampe an der Decke trieb die Nacht, den Mond und das Entsetzen zurück. Ich höre Gespenster, dachte sie. Es war mein eigenes Kleid. Es waren meine eigenen Nägel. Es war nicht ein müder, letzter Rest von Leben, der sich noch einmal geregt hat.

Sie starrte wieder auf den Sarg, der jetzt im grellen Licht stand. Nein — dieser schwarze, polierte Kasten mit den Bronzegriffen enthielt kein Leben mehr. Im Gegenteil — in ihm war die finsterste Drohung eingeschlossen, die die Menschheit kannte. Es war nicht mehr Agnes Somerville, ihre Freundin, die in ihrem goldenen Kleide regungslos, mit gestocktem Blut und zerfallenden Lungen in ihm lag — es war auch nicht mehr das wächserne Abbild eines Menschen, in dem die eingeschlossenen Säfte langsam begannen, es zu zerstören — , nein, in diesem Kasten lauerte nur noch das absolute Nichts, der Schatten ohne Schatten, das unbegreifliche Nichts mit dem ewigen Hunger nach dem anderen Nichts, das in allem Leben wohnte und wuchs, das mit einem geboren wurde und das auch in ihr, Lillian Dunkerque, war und schweigend wuchs und Tag um Tag ihres Lebens fraß, bis nur es allein noch da sein würde, und man seine Hülle ebenso wie diese hier in eine schwarze Kiste packen würde zu Abfall und Zerfall.

Sie griff hinter sich nach der Türklinke. Im Augenblick, als sie sie berührte, drehte sich die Klinke scharf in ihrer Hand. Sie unterdrückte einen Schrei. Die Tür öffnete sich. Vor Lillian stand ein überraschter Hausknecht und starrte sie an. »Was ist los?« stotterte er. »Wo kommen Sie her?« Er blickte an ihr vorbei ins Zimmer, in dem die Vorhänge im Zugwind flatterten. »Es war doch abgeschlossen! Wie sind Sie hereingekommen? Wo ist der Schlüssel?«

»Es war nicht abgeschlossen.«

»Dann muß jemand — « Der Hausknecht sah auf die Tür. »Da steckt er ja!« Er wischte sich über das Gesicht. »Wissen Sie, einen Moment dachte ich —«

»Was?«

Er deutet auf den Sarg. »Ich dachte, Sie wären es und —«

»Ich bin es ja«, flüsterte Lillian.

»Was?«

»Nichts.«

Der Mann trat einen Schritt in das Zimmer. »Sie verstehen mich nicht. Ich dachte, Sie wären die Tote. So was! Dabei habe ich doch schon allerhand mitgemacht!« Er lachte. »Das nennt man einen Schreck in der Nachtstunde! Was machen sie denn hier! Nummer achtzehn ist doch schon zugeschraubt.«

»Wer?«

»Nummer achtzehn. Ich weiß den Namen nicht. Ist ja auch nicht nötig. Wenn's soweit ist, nützt der schönste Name nichts mehr.« Der Hausknecht drehte das Licht ab und schloß die Tür. »Freuen Sie sich, daß Sie es nicht sind, Fräulein«, sagte er gutmütig.

Lillian kramte Geld aus ihrer Tasche hervor. »Hier ist etwas für den Schreck, den ich Ihnen bereitet habe.« Der Hausknecht salutierte und rieb sich die Bartstoppeln. »Herzlichen Dank! Ich werde es mit meinem Kollegen Josef teilen. Nach einem so traurigen Geschäft schmeckt ein Bier mit Korn immer besonders gut. Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen, Fräulein. Einmal müssen wir alle dran glauben.«

»Ja«, erwiderte Lillian. »Das ist ein Trost. Ein wirklich wunderbarer Trost ist das, nicht wahr?«

* * *

Sie stand in ihrem Zimmer. Die Zentralheizung summte. Alle Lichter brannten. Ich bin verrückt, dachte sie. Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst vor mir selbst. Was soll ich tun? Ich kann ein Schlafmittel nehmen und das Licht brennen lassen. Ich kann Boris anrufen und mit ihm sprechen. Sie hob die Hand nach dem Telefon, aber sie nahm den Hörer nicht ab. Sie wußte, was er ihr sagen würde. Sie wußte auch, daß er recht haben würde; aber was nützte es, wenn man wußte, daß man recht hatte? Der Mensch hatte sein bißchen Vernunft, um zu erkennen, daß er nach ihr allein nicht leben konnte. Man lebte von Gefühlen — und bei denen half Recht nicht.

Sie hockte sich in einen Sessel am Fenster. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, dachte sie, ebenso alt wie Agnes. Vier Jahre bin ich hier oben. Davor war fast sechs Jahre lang Krieg. Was kenne ich vom Leben? Zerstörung, die Flucht aus Belgien, Tränen, Angst, den Tod meiner Eltern, Hunger, und dann die Krankheit durch den Hunger und die Flucht. Davor war ich ein Kind. Ich erinnere mich kaum noch daran, wie Städte im Frieden nachts einmal ausgesehen haben müssen. Die tausend Lichter und die strahlende Welt der Straßen — was weiß ich noch davon? Ich kenne nur noch Verdunkelungen und den Bombenregen aus dem lichtlosen Dunkel, und dann Okkupationen und Furcht und Verstecken und Kälte. Glück? Wie war dieses endlose Wort, das einst in Träumen so geglänzt hatte, zusammengeschrumpft! Ein Zimmer ohne Heizung war bereits Glück gewesen, ein Brot, ein Keller, ein Platz, der nicht beschossen wurde. Dann war das Sanatorium gekommen. Sie starrte aus dem Fenster. Unten stand ein Schlitten neben dem Eingang für Lieferanten und Dienstboten. Vielleicht war es schon der Schlitten für Agnes Somerville. Vor einem Jahr war sie lachend mit Pelzen und Blumen am Haupteingang des Sanatoriums angekommen; jetzt verließ sie das Haus heimlich durch den Dienstboteneingang, als hätte sie ihre Rechnung nicht bezahlt. Vor sechs Wochen hatte sie mit Lillian noch Pläne gemacht für die Abreise. Die Abreise, das Phantom, die Fata Morgana, die nie kam.