In der Bar stampften Skiläufer in schweren Schuhen auf der Tanzfläche herum. Der Kellner schob einen Tisch in einer Ecke zurecht. »Wodka?« fragte er Clerfayt.
»Nein. Etwas Heißes. Glühwein oder Grog.« Clerfayt sah Lillian an. »Was von beiden?«
»Wodka. Haben Sie den nicht vorher auch getrunken?«
»Ja. Aber vor dem Essen. Einigen wir uns auf etwas, was die Franzosen den lieben Gott in Samthosen nennen. Einen Bordeaux.«
Er sah, daß sie ihn mißtrauisch musterte. Wahrscheinlich glaubte sie, er wolle sie als Kranke behandeln und sie schonen. »Ich beschwindele Sie nicht«, sagte er. »Ich würde den Wein auch bestellen, wenn ich jetzt allein hier wäre. Wodka können wir morgen vor dem Essen trinken, soviel Sie wollen. Wir werden eine Flasche ins Sanatorium schmuggeln.«
»Gut. Dann lassen Sie uns den Wein trinken, den Sie gestern abend unten in Frankreich gehabt haben — im Hotel de la Pyramide in Vienne.«
Clerfayt war überrascht, daß sie die Namen behalten hatte. Man muß achtgeben bei ihr, dachte er; wer sich Namen so gut merkt, merkt sich auch anderes. »Es war ein Bordeaux«, sagte er, »ein Lafite Rothschild.« Es war nicht wahr. Er hatte in Vienne einen leichten Wein der Region getrunken, der nicht ausgeführt wurde; aber es war unnötig, das zu erklären. »Bringen Sie uns einen Chвteau Lafite 1937, wenn Sie ihn haben«, sagte er dem Kellner. »Und wärmen Sie ihn nicht mit einer heißen Serviette an. Bringen Sie ihn lieber so, wie er im Keller liegt.«
»Wir haben ihn chambré, mein Herr.«
»Welch ein Glück!«
Der Kellner ging zur Bar und kam zurück. »Sie werden am Telefon verlangt, Herr Clerfayt.«
»Von wem?«
»Das weiß ich nicht, mein Herr. Soll ich fragen?«
»Das Sanatorium!« sagte Lillian nervös. »Das Krokodil!«
»Das werden wir gleich herausfinden.« Clerfayt stand auf. »Wo ist die Kabine?«
»Draußen, rechts neben der Tür zur Bar.«
»Bringen Sie inzwischen den Wein. Machen Sie die Flasche auf, und lassen Sie ihn atmen.«
»War es das Krokodil?« fragte Lillian, als er zurückkam.
»Nein. Es war ein Anruf aus Monte Carlo.« Clerfayt zögerte einen Moment, aber als er ihr Gesicht aufleuchten sah, dachte er, es könne ihr nicht schaden zu hören, daß auch anderswo Menschen stürben. »Aus dem Hospital in Monte Carlo«, sagte er. »Ein Bekannter von mir ist gestorben.«
»Müssen Sie zurück?«
»Nein. Es ist da nichts weiter zu tun. Ich glaube sogar, daß es ein Glück für ihn war.«
»Ein Glück?«
»Ja. Er ist beim Rennen gestürzt und wäre ein Krüppel geblieben.«
Lillian starrte ihn an. Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Was redete dieser gesunde Eindringling da für barbarischen Unsinn? »Denken Sie nicht, daß auch Krüppel manchmal noch gerne leben?« fragte sie sehr leise und plötzlich voll Hass.
Clerfayt antwortete nicht gleich. Die harte, metallische, verzweifelte Stimme der Frau, die ihn angerufen hatte, war noch in seinen Ohren: Was soll ich machen? Ferrer hat nichts hinterlassen! Kein Geld? Kommen Sie! Helfen Sie mir! Ich sitze fest! Sie sind schuld! Ihr alle seid schuld! Ihr mit euren verfluchten Rennen!
Er schüttelte es ab. »Es kommt darauf an«, sagte er zu Lillian. »Dieser Mann war sinnlos in eine Frau verliebt, die ihn mit jedem Mechaniker betrog. Und er war ein begeisterter Rennfahrer, der aber nie über den Durchschnitt hinausgekommen wäre. Alles, was er vom Leben wollte, waren Siege in großen Rennen und die Frau. Er starb, bevor er über beides die Wahrheit herausfand — und er starb auch, ohne zu wissen, daß die Frau ihn nicht mehr sehen wollte, weil er amputiert war. Das meine ich mit Glück.«
»Vielleicht hätte er trotzdem noch gerne gelebt!«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Clerfayt, plötzlich irritiert. »Aber ich habe Menschen elender sterben sehen. Sie nicht auch?«
»Ja«, sagte Lillian hartnäckig. »Aber alle hätten gern noch gelebt.«
Clerfayt schwieg. Was rede ich da nur? dachte er. Und wozu? Aber rede ich nicht, um mich selbst von etwas zu überzeugen, was ich nicht glaube? Diese harte, kalte, metallische Stimme von Ferrers Freundin am Telefon!
»Niemand entkommt«, sagte er schließlich ungeduldig. »Und niemand weiß, wann und wie es ihn trifft. Wer kann da schachern um Zeit? Was ist denn ein langes Leben? Eine lange Vergangenheit. Und die Zukunft reicht immer nur bis zum nächsten Atemzug. Oder bis zum nächsten Rennen. Darüber hinaus weiß man nichts.« Er hob sein Glas. »Wollen wir darauf trinken?«
»Worauf?«
»Auf nichts. Auf ein bißchen Courage vielleicht.«
»Ich bin der Courage müde«, sagte Lillian. »Und des Trostes auch. Erzählen Sie mir lieber, wie es unten aussieht. Auf der anderen Seite der Berge.«
»Trostlos. Nichts als Regen. Seit Wochen.«
Sie stellte ihr Glas langsam auf den Tisch zurück.
»Regen!« Sie sagte es, als sagte sie: Leben. »Hier hat es seit Oktober nicht mehr geregnet. Nur geschneit. Ich habe schon fast vergessen, wie Regen aussieht —«
Es schneite, als sie herauskamen. Clerfayt pfiff einen Kutscher heran.
Sie fuhren die Serpentinen hinauf. Die Glocken des Pferdegeschirrs läuteten. Die Straße war still in der wirbelnden Dunkelheit. Nach einer Weile hörten sie vom Berg her ein zweites Geschirr läuten. Der Kutscher hielt an einer Ausweichstelle neben einer Laterne, um dem anderen, der von oben kam, Platz zu machen. Das Pferd stampfte und prustete. Der zweite Schlitten glitt im Schneegestöber fast lautlos an ihnen vorüber. Es war ein niedriger Transportschlitten, auf dem eine lange Kiste stand, die in schwarzes Wachstuch gehüllt war. Man sah neben der Kiste eine Zeltbahn, unter der Blumen hervorlugten, und eine zweite, die über einen Stapel Kränze geworfen war.
Der Kutscher bekreuzigte sich und trieb das Pferd wieder an. Schweigend fuhren sie die letzten Kurven hinauf und hielten vor dem Seiteneingang des Sanatoriums. Eine elektrische Birne unter einem Porzellanschirm warf einen Kreis gelben Lichtes auf den Schnee. Darin lagen ein paar abgerissene grüne Blätter. Lillian stieg aus. »Es hilft alles nichts«, sagte sie mit einem mühsamen Lächeln. »Man kann es eine Weile vergessen — aber man kann ihm nicht entgehen.«
Sie öffnete die Tür. »Danke«, murmelte sie. »Und verzeihen Sie — ich war keine gute Gesellschaft. Aber ich konnte nicht allein sein heute abend.«
»Ich auch nicht.«
»Sie? Warum Sie nicht?«
»Aus demselben Grund wie Sie. Ich habe es Ihnen erzählt. Das Telefon aus Monte Carlo.«
»Aber Sie sagten doch, das sei ein Glück.«
»Es gibt verschiedene Arten von Glück. Und man sagt manches.« Clerfayt griff in die Tasche seines Mantels.
»Hier ist der Kirsch, den Sie dem Hausknecht versprochen haben. Und hier die Flasche Wodka für Sie. Gute Nacht.«
3
Als Clerfayt erwachte, sah er einen verhangenen Himmel und hörte den Wind an den Fenstern rütteln.
»Föhn«, sagte der Kellner. »Der warme Wind, der müde macht. Man fühlt ihn immer schon vorher in den Knochen. Die Bruchstellen schmerzen.«
»Sind Sie Skiläufer?«
»Nein. Bei mir sind es Kriegsverwundungen.«
»Als Schweizer?«
»Ich bin Österreicher«, sagte der Kellner. »Mit dem Skilaufen ist es bei mir aus. Ich habe nur noch einen Fuß. Aber Sie glauben nicht, wie der, der mir fehlt, bei diesem Wetter weh tut.«
»Wie ist der Schnee?«
»Unter uns gesagt: klebrig wie Honig. Nach dem Hotel-Bulletin: gut, Pulverschnee in den höheren Lagen.«
Clerfayt beschloß, das Skilaufen zu verschieben. Er war ohnehin noch müde; der Kellner schien recht zu haben mit dem Wind. Er hatte auch Kopfschmerzen. Der Kognak gestern nacht, dachte er. Warum hatte er weitergetrunken, nachdem er das sonderbare Mädchen mit seiner Mischung aus Weltschmerz und Lebensgier zum Sanatorium gebracht hatte? Merkwürdige Menschen hier oben — Menschen ohne Haut. Ich war auch einmal so ähnlich, dachte er. Vor tausend Jahren. Habe mich gründlich geändert. Mußte es. Aber was war geblieben? Was, außer etwas Zynismus, Ironie und falscher Überlegenheit? Und was kam noch? Wie lange konnte er noch Rennen fahren? War er nicht schon überfällig? Und was kam dann? Was erwartete ihn noch? Ein Posten als Autovertreter in irgendeiner Provinzstadt — und das langsam herandämmernde Alter mit den endlosen Abenden, den schwindenden Kräften, der Erinnerung, die schmerzte, der Resignation, der zermürbte, der Schablone und dem Phantom eines Daseins, das sich in schalen Wiederholungen erschöpfte?