»Vielen Dank, Madam Co-Präsidentin.«
Eine Stunde später stand die virtuelle Präsenz von Colonel Carabali in seinem Quartier und zeigte auf zwei Aufnahmen, die das Arbeitslager auf dem dritten Planeten zeigten. Beide Fotos waren mit Symbolen versehen, die die verschiedenen Pläne zur Befreiung der Gefangenen kennzeichneten. Von oben betrachtet war die Syndik-Einrichtung ein nahezu vollkommenes Achteck, wobei sich an jeder Ecke ein ausladender Wachturm befand. Zudem wurde jede der acht massiven Mauern aus verstärktem Beton von kleineren Wachposten gesäumt. Dreifache Reihen Stacheldraht folgten innen und außen. In den freien Bereichen zwischen zwei Reihen deutete alles auf Tretminen hin. Außerdem wurde zweifellos jede Ecke mit Kameras überwacht. Im Inneren des Achtecks fanden sich zahlreiche Gebäude, die als Kasernen für die Gefangenen, als Unterkünfte für das Wachpersonal, als Krankenstation, Verwaltung und anderes gekennzeichnet waren. Die Lagermitte wurde von einem weitläufigen freien Platz beherrscht, auf dem Syndik-Shuttles landen und die Gefangenen sich aufstellen konnten.
Unwillkürlich stellte sich Geary vor, ohne jede Hoffnung auf Rettung an einem solchen Ort gefangen zu sein.
»Uns stehen zwei grundsätzliche Möglichkeiten zur Verfügung«, begann Carabali in ihrem üblichen, absolut ernsten Besprechungstonfall. »Beide basieren auf der Tatsache, dass ich in dieser Flotte nur noch über etwas mehr als zwölfhundert einsatzfähige Marines verfüge. Das ist viel zu wenig, um eine Einrichtung von dieser Größe zu besetzen und vor Angreifern von außen zu verteidigen, und zwar sogar dann, wenn wir von den Wachen im Lager keinen Widerstand zu erwarten hätten. Wie ich allerdings von Co-Präsidentin Rione erfahren habe, werden die Wachen kämpfen wollen.«
Sie zeigte auf einen Teil des ersten Bildes. »Eine Option besteht darin, dass wir die Marines konzentrieren und uns Sektor für Sektor durch das Lager kämpfen, jeden Sektor besetzen, die Gefangenen rausbringen und dann zum nächsten Sektor vorrücken. Das hat den Vorteil, dass alle Marines dicht genug beisammenbleiben, um sich gegenseitig Feuerschutz zu geben und um gegen Angriffe besser geschützt zu sein. Der Nachteil ist, dass wir mehr Zeit am Boden verbringen müssen. Wenn der Feind dann erst einmal erkannt hat, nach welchem Prinzip wir vorgehen, kann er versuchen, die Gefangenen aus den Sektoren wegzubringen, bis zu denen wir noch nicht vorgedrungen sind. Oder sie mischen sich unter die Gefangenen und benutzen sie als Geiseln. Diese Option kann ich daher nicht empfehlen.«
Dann wandte sich Carabali der anderen Darstellung zu. »Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Großteil der Marines entlang der Außenmauern zu positionieren und gleichzeitig eine Streitmacht in der Lagermitte abzusetzen, um den Landeplatz zu halten. Wir haben nicht genug Marines, um flächendeckend alles zu sichern, aber wir können sie an allen strategisch wichtigen Punkten positionieren. Dann rücken die Marines auf das Gelände vor, eliminieren jeden Widerstand, der sich ihnen in den Weg stellt, oder umgehen zu gut verteidigte Abschnitte. Dabei nehmen sie alle Gefangenen mit, auf die sie unterwegs stoßen. In der Lagermitte kommen sie dann von allen Seiten zusammen, von wo wir sie dann so schnell wie möglich mit den Shuttles herausholen. Der Vorteil liegt darin, dass der Feind keine Zeit hat, seine Leute zusammenzuziehen oder einige der Gefangenen aus dem Lager zu schaffen. Außerdem können sich unsere Leute umso besser gegenseitig unterstützen, je weiter sie vorrücken, weil dann die Lücken geschlossen werden. Der Nachteil ist der, dass unsere Leute gerade zu Beginn der Offensive sehr weit verstreut sein werden und sich nicht gegenseitig Feuerschutz geben können. Das Gleiche gilt für unsere Shuttles, weil sie unsere Leute weit voneinander entfernt absetzen werden.«
Geary betrachtete die Darstellungen und sah dann den Colonel an. Vor hundert Jahren war er in Einsätzen der Marines ein wenig geschult worden, aber seine tatsächliche Erfahrung mit Bodeneinsätzen beschränkte sich auf das, was er als Befehlshaber dieser Flotte miterlebt hatte. Dazu hatten aber aber keine Operationen von solchen Ausmaßen gehört. Und doch war er in seiner Position gezwungen, die Marines zu befehligen und über deren Pläne zu entscheiden. Zum Glück kannte er Carabali inzwischen gut genug, um ihr und ihren Fähigkeiten zu vertrauen. »Auch wenn die Risiken größer sind, darf ich annehmen, dass Sie den zweiten Plan empfehlen werden, richtig?«
»Jawohl, Sir.«
»Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten der ersten Option ein?«
Carabali betrachtete die Darstellung dieses Plans, dachte kurz nach, dann sagte sie: »Wenn Sie Erfolg so definieren, dass alle Kriegsgefangenen befreit werden, dann würde ich sagen, dass die erste Option bei maximal fünfzig Prozent liegt, wahrscheinlich aber deutlich darunter, abhängig davon, wie die Syndiks reagieren. Bei dieser Option sind wir unter Umständen sehr verwundbar, je nachdem wozu die Syndiks sich entschließen.«
»Und die zweite Option?«
»Neunzig Prozent Erfolgsaussichten.«
»Aber bei der zweiten Option ist das Risiko für Ihre Marines und für die Shuttles höher«, wandte er ein.
»Richtig, Sir.« Carabali drehte sich zu ihm um und schaute ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Die Mission lautet, die Kriegsgefangenen zu retten, Sir.«
Das brachte es auf den Punkt, wie Geary feststellen musste. Wenn er für die Rettung der Kriegsgefangenen das kleinste Risiko eingehen wollte, musste er gleichzeitig die Marines einem größeren Risiko aussetzen. Carabali wusste das, und wahrscheinlich wusste es auch jeder ihrer Marines. Und jeder akzeptierte es, weil es das war, was es bedeutete, ein Marine zu sein. »Also gut, Colonel. Ich bin mit Ihrer Empfehlung einverstanden, wir werden nach der zweiten Option vorgehen. Die Flotte wird Sie mit aller Feuerkraft unterstützen, die sie aufbieten kann.«
Carabali lächelte Geary flüchtig an. »In diesem Lager befinden sich viele Gebäude, und in einer solchen Umgebung sind die feindlichen Streitkräfte von den eigenen nie weit entfernt.«
»Wie groß soll die Sicherheitszone sein?«
»Hundert Meter, Sir, aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Es könnte sein, dass wir unterstützendes Feuer in einer viel geringeren Entfernung benötigen.«
»Gut, Colonel.« Geary stand auf. »Sie können mit Ihrer Planung und der Ausführung dieser Mission fortfahren. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie irgendetwas brauchen.«
»Jawohl, Sir.« Sie salutierte, dann löste sich ihr Bild auf.
Die Darstellungen der beiden Strategien waren noch einen Moment länger zu sehen. Geary betrachtete sie und wusste, seine Entscheidung würde für manche der Marines den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Aber so wie Carabali war auch ihm klar, dass er eigentlich keine andere Wahl hatte.
»Die Kämpfe scheinen sich auf dem dritten und vierten Planeten deutlich ausgeweitet zu haben«, meldete Lieutenant Iger, als die Allianz-Flotte über der dritten Welt in einen Orbit einschwenkte. Eine Orbitalfestung, die probiert hatte, die herannahenden Schiffe unter Beschuss zu nehmen, war von mehreren kinetischen Projektilen in Fetzen gerissen worden, und seitdem hatte nichts und niemand mehr versucht, sich der Allianz-Flotte in den Weg zu stellen.
Alle im Sternensystem noch verbliebenen Schweren Kreuzer der Syndiks hatten Heradao durch einen der Sprungpunkte verlassen, die restlichen Leichten Kreuzer und Jäger hielten sich unverändert in deren Nähe auf. Keines der Schiffe hatte versucht, sich der Region zu nähern, wo Geary die am schwersten beschädigten Schiffe zusammen mit den Hilfsschiffen und einer schlagkräftigen Eskorte zurückgelassen hatte. »Noch immer keine Gruppierung feststellbar, die da unten die Oberhand bekommt?«
»Nein, Sir«, erwiderte Iger. »Es werden zwar von allen möglichen Seiten Erklärungen verbreitet, aber wir können keine Belege dafür entdecken, dass diese Behauptungen den Tatsachen entsprechen.«