So veraltet, dass sie schon vor hundert Jahren im Einsatz gegen die Allianz gewesen waren, als die Syndiks sie wegen ihrer billigen Bauweise in Massen in den Kampf geschickt hatten. Damals, zu Beginn des Kriegs. Wieder sah Geary vor seinem geistigen Auge, wie diese Korvetten auf die Merlon zurasten und sie unter Beschuss nahmen.
»Sir?«, fragte Desjani plötzlich.
Er schüttelte den Kopf und erkannte erschrocken, dass er sich von seinen Gedanken hatte mitreißen lassen, anstatt auf Desjanis Bemerkung zu reagieren. »Oh, tut mir leid.«
Niemand außer Geary konnte den sorgenvollen Ausdruck in ihren Augen sehen, und als sie weitersprach, hörte sie sich an, als verlaufe alles ganz nach Routine. »Die erste Korvette könnte auch in Kürze nach Cavalos zurückspringen und dort melden, dass wir noch hier sind.« Ihre Miene nahm wieder völlig sachliche Züge an. »Weil wir noch hier sind.«
»Wir müssen alles bergen, was die Syndiks hier zurückgelassen haben, als vor Jahrzehnten ihr gesamtes Personal aus diesem System abgezogen wurde«, erwiderte Geary und gab sich Mühe, auf Desjanis Drängen nicht verärgert zu reagieren.
»Wir haben alle zurückgelassenen Lebensmittel bereits geborgen.« Sie verzog das Gesicht. »Wobei ich anmerken möchte, dass ich den Begriff ›Lebensmittel‹ in diesem Zusammenhang sehr weit auslege. Die Flotte muss weiter mit eingeschränkten Rationen auskommen.« Desjani zuckte mit den Schultern. »Das ist das einzig Gute an dem Zeugs, das wir an Bord schaffen. Niemand will davon mehr als unbedingt nötig essen, darum stört sich die Crew auch nicht an Rationierungen. Wenn das Essen genießbar wäre, sähe es anders aus.«
»Offenbar hat alles auch seine guten Seiten«, meinte Geary amüsiert, während er die Informationen überprüfte, welche Mengen Rohmineralien bislang auf die Hilfsschiffe der Flotte verladen worden waren. Erst dann fiel ihm auf, dass Desjani zunächst auf die Notwendigkeit gekommen war, diese Flotte wieder in Bewegung zu setzen, doch gleich darauf das Thema gewechselt hatte, um seine Verärgerung verpuffen zu lassen.
Ich sollte nicht wütend auf sie sein. Ihre Sorge ist völlig legitim und wird von jedem befehlshabenden Offizier in dieser Flotte geteilt. Wann verlassen wir Dilawa? Und wohin geht es dann? Wir halten uns jetzt schon seit fast eineinhalb Tagen hier auf, und das dürfte mindestens ein Tag zu lang sein.
Es gab keinen plausiblen Grund, noch mehr Zeit bei Dilawa zu verbringen. Es war ein Stern ohne bewohnbare Welten, und die von den Syndiks zurückgelassenen Anlagen hatten allenfalls ein paar tausend Menschen beherbergt. Diese Menschen waren hier gewesen, weil die alten überlichtschnellen Schiffsantriebe Sprünge nur zwischen relativ nah beieinander gelegenen Sternen erlaubt hatten. Schiffe mussten also jedes Sternensystem passieren, das zwischen Start und Ziel ihrer Reise lag. Durch das Hypernet hatte sich das grundlegend geändert, da jedes Schiff von einem beliebigen Portal direkt zu jedem anderen Portal reisen konnte. Als Folge davon schwanden die Bevölkerungszahlen in zahlreichen unbedeutenden Systemen, die über keines dieser Portale verfügten und die vom interstellaren Verkehr ignoriert wurden.
Aber es waren gerade diese alten Sprungantriebe, die seine Flotte Stückchen für Stückchen nach Hause brachten, während sich das Hypernet inzwischen als Bedrohung für die gesamte Menschheit entpuppt hatte. Die Dauntless hatte zudem einen Hypernet-Schlüssel der Syndiks an Bord, der der Allianz einen entscheidenden Vorteil verleihen konnte, wenn die Flotte es sicher nach Hause schaffte. Sollte Letzteres nicht gelingen, dann wären der Schlüssel mitsamt des Wissens von der vom Hypernet ausgehenden Bedrohung ebenso verloren wie die Kriegsschiffe und ihre Besatzungen. Der Preis für ein Scheitern erschien ihm jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, noch etwas höher. »Lassen Sie mich wissen, wenn sich irgendwas tut«, bat er Desjani.
»Jawohl, Sir.« Ihr Bild verschwand, jedoch erst, nachdem ihr Gesichtsausdruck die Botschaft vermittelt hatte, dass sich zwar dringend etwas tun musste, dass genau das aber nicht geschah.
Er saß da, vor sich das Display von Dilawa, das über dem Tisch schwebte. Ganz gleich, wie lange er auf die Darstellung starrte, sie weigerte sich, einer Kristallkugel gleich Antworten auf die Fragen zu geben, die er klären musste.
Vor allem die Frage, wohin sie von Dilawa aus reisen sollten.
Entscheide dich einfach, ermahnte er sich. So etwas hatte er seit dem Rückzug aus dem Heimatsystem der Syndiks Dutzende Male getan, es sollte also nicht ganz so schwierig sein. Allzu viele Sprünge lagen ohnehin nicht mehr vor ihnen, ehe die Flotte ein Grenzsystem der Syndikatwelten erreichte, von wo aus der Sprung zurück ins Allianz-Territorium möglich wäre. Es sollte einfach sein, wo doch das rettende Ufer so nah war. Stattdessen kam es ihm aber jedes Mal schwieriger vor, wenn er sich mit der Frage beschäftigte. Er zögerte, da jede mögliche Entscheidung ihn daran denken ließ, was bei Lakota und Cavalos schiefgelaufen war. Und nun regten sich auch noch die Erinnerungen an die Zerstörung der Merlon.
Er hatte überlegt, ob er Victoria Rione um Rat fragen sollte, aber die Co-Präsidentin der Callas-Republik und Angehörige des Allianz-Senats weigerten sich schon seit einer Weile, zu diesem Thema Ratschläge zu geben. Offiziell behauptete Rione, es liege daran, dass sie sich schon so oft geirrt habe, was ihrer Meinung nach für die Flotte das Beste sei. Vielleicht gab es auch einen anderen Grund für ihre Haltung, doch welcher Grund das sein mochte, das konnte er nicht sagen. Zwar waren sie beide für eine Weile ein Paar gewesen, aber Rione hatte sogar während dieser Phase ihrer Beziehung kaum etwas über sich verraten.
In den letzten Tagen hatte er sie so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommen, was sie so rechtfertigte: »Ich muss mich darauf konzentrieren, meine Informanten innerhalb der Flotte zu positionieren. Wir müssen herausfinden, welche Allianz-Offiziere sich in ihren Widerstand gegen Ihr Kommando so sehr hineingesteigert haben, dass sie bereit sind, schädliche Würmer in die Betriebssysteme der Flotte einzuschleusen.« Da diese Würmer beinahe die Zerstörung einiger seiner Schiffe herbeigeführt hatten, konnte Geary nichts gegen die Prioritäten einwenden, die sie setzte.
Es gab andere, die er fragen konnte. Intelligente, zuverlässige und umsichtige Offiziere wie Captain Duellos von der Courageous, Captain Tulev von der Leviathan und Captain Cresida von der Furious.
Aber Geary saß allein da und musterte das Sternendisplay, während er einen sonderbaren Widerwillen verspürte, irgendwen um Rat zu fragen, wenngleich er doch wusste, dass jeder weitere Aufschub fatale Folgen haben konnte.
Die Türglocke zu seinem Quartier ertönte, identifiziert wurde Captain Desjani als diejenige, die um Einlass bat. Er ließ sie hereinkommen und fragte sich, aus welchem Grund sie hier sein mochte. Angesichts der weitverbreiteten Gerüchte, dass er eine Affäre mit Desjani unterhielte, suchte sie ihn nur noch selten in seinem Quartier auf.
Tatsächlich hätten sie sogar eine Affäre haben können, aber keiner von ihnen würde seinen Gefühlen Taten folgen lassen. Beide hatten sie diese Gefühle nicht gewollt, und solange er der Flottenbefehlshaber und sie seine Untergebene war, würde auch nichts passieren.
»Ist etwas vorgefallen?«, wollte er wissen.
Desjani deutete mit einer Kopfbewegung auf das Display. »Ich möchte unter vier Augen mit Ihnen über Ihre weiteren Pläne reden, Sir.«