»Ich möchte wissen«, überlegte Desjani, »was die befreiten Gefangenen jetzt gerade denken. Ist ihnen klar, dass sie gerettet werden, oder meinen sie, der Weltuntergang sei gekommen?«
»Möglicherweise beides. Colonel Carabali, wenn Sie einen Moment erübrigen können, würde ich gern Ihre Einschätzung der Operation hören.«
Augenblicklich tauchte ihr Bild vor ihm auf. »Besser als befürchtet, Sir. Wir haben auf dem Weg zur Lagermitte zwar in fast jeder Einheit Verluste erlitten, aber nur die Dritte Kompanie hat es richtig schlimm erwischt. Offenbar sind sie in einen Bereich geraten, in dem sich die Syndiks besonders konzentriert aufgehalten haben. Die Evakuierung der Gefangenen verläuft reibungslos. Ich schätze, in vierzig Minuten ist auch der letzte Gefangene in einem Shuttle. Dann brauchen wir noch mal gut zwanzig Minuten, bis das letzte Marines-Shuttle abheben wird.«
»Danke, Colonel. Wir werden versuchen, Ihnen die Syndiks so lange vom Hals zu halten.«
Plötzlich stutzte Carabali, und erst nach ein paar Sekunden wurde Geary klar, dass sie nicht auf seine Äußerung reagiert hatte, sondern über einen anderen Kanal etwas hörte. »Sir, wir haben hier Wachleute und ihre Familien, die kapitulieren wollen, wenn sie im Gegenzug freies Geleit erhalten.«
»Familien?« Sein Magen verkrampfte sich, als er daran dachte, womit sie das Lager bombardiert hatten.
»Ja, Sir. Gesehen haben wir auch keine. Einen Moment, Sir.« Carabali drehte sich zur Seite und unterhielt sich kurz mit einigen befreiten Gefangenen, dann wandte sie sich wieder an Geary. »Wie ich höre, haben die Familien bislang außerhalb des Lagers gewohnt. Offenbar wurden sie ins Lager gebracht, um sie in Sicherheit zu bringen, nachdem die Kämpfe auf dem Planeten begonnen hatten.«
»Und dann fordern sie uns heraus, damit wir uns mit ihnen eine Schlacht liefern?«, rief Geary fassungslos.
»Richtig, Sir. Von den Gefangenen haben wir erfahren, dass es im nördlichen Teil des Lagers weitläufige unterirdische Lagerräume gibt. Sie vermuten, dass die Wachen dort ihre Familien untergebracht haben.«
Geary betrachtete die Darstellung des Lagers und stellte fest, dass der angesprochene nördliche Lagerbereich weitestgehend unversehrt geblieben war. »Den lebenden Sternen sei Dank, dass sie klug genug waren, sich in der Ecke nicht unseren Marines zu widersetzen. Was verstehen sie unter freiem Geleit? Wohin wollen sie?«
»Augenblick, Sir.« Wieder gab Carabali die Frage weiter, die dann an die Syndiks geleitet wurde. »Sie wollen den Planeten verlassen«, antwortete sie, als die Reaktion bei ihr eingetroffen war.
»Unmöglich.«
»Sie sagen, wenn sie hier bleiben müssen, dann ist das ihr Todesurteil. Die Aufständischen in der Stadt haben gefordert, dass sie ihnen die Kriegsgefangenen überlassen. Aber die Wachen haben sich geweigert, weil es keinen entsprechenden Befehl gibt. Sie behaupten, sie hätten die Aufständischen bis zu unserem Eintreffen daran gehindert, in das Lager vorzudringen, aber nachdem das nun weitestgehend zerschossen ist und sie so viele Verluste erlitten haben, glauben sie nicht, dass sie sich noch länger gegen die Aufständischen behaupten können.«
»Verdammt.« Geary schilderte Rione und Desjani, was er erfahren hatte. »Irgendwelche Vorschläge?«
»Wenn sie sich nicht gegen uns zur Wehr gesetzt hätten«, ereiferte sich Desjani, »dann wären sie auch in der Lage, sich weiter zu verteidigen, wenn wir dieses System längst verlassen haben. Außerdem können wir sie nicht mitnehmen. Keines unserer Schiffe ist auf so viele Gefangene eingestellt. Und ich möchte auch noch anmerken, dass wir ihnen keinen Gefallen schulden, nachdem sie sich alle Mühe gegeben haben, unsere Marines zu töten. Sie haben sich selbst in diese Lage gebracht.«
Rione wirkte unzufrieden und nickte dennoch zustimmend. »Im Moment wüsste ich nicht, wie wir diesen Leuten helfen könnten, Captain Geary.«
»Ja, aber wenn sie weiterkämpfen, verlieren wir umso mehr Leute.« Geary saß da und starrte eine Weile nachdenklich auf das Gebäude, während er nach möglichen Optionen suchte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er rief wieder Carabali. »Colonel, machen Sie ihnen folgendes Angebot: Die Wachen stellen das Feuer ein, und wir hören auf, sie zu töten. Sobald unsere Leute den Planeten verlassen haben, bombardieren wir alle Zufahrtswege aus der Stadt, während die Wachen sich zusammen mit ihren Familien in die andere Richtung zurückziehen. Wenn jemand versucht, sie anzugreifen, solange wir noch in Reichweite sind, werden wir ihnen Feuerschutz geben. Mehr als das kann ich nicht anbieten.«
»Verstanden, Sir. Ich gebe das weiter und lasse Sie ihre Antwort wissen.«
Fünf Minuten später, in denen eine weitere Formation aus Syndik-Flugzeugen mitten im Flug zerstört worden war und es zwei neuerliche Bombardements gegeben hatte, um noch eine Partikelstrahl-Batterie und eine Raketenabschussbasis unbrauchbar zu machen, meldete sich Carabali wieder bei ihm. »Sie sind einverstanden, Sir. Sie sagen, sie werden umgehend all ihren Kameraden sagen, dass sie das Feuer einstellen und sich mit ihren Familien an den Ostrand des Lagers begeben sollen. Sie bitten darum, dass wir sie nicht in weitere Kämpfe verwickeln.«
»Einverstanden, Colonel. Es sei denn, einer von ihnen eröffnet das Feuer.«
»Ich werde ihnen sagen, dass Waffenruhe vereinbart worden ist. Trotzdem werden wir sie sehr wachsam im Auge behalten.«
Im Verlauf der nächsten Minuten veränderte sich die Art, wie die Marines in Richtung Lagermitte vorrückten. Manche bewegten sich zügig weiter, andere wichen von ihrem bisherigen Weg ab, um eine Verteidigungslinie zwischen dem Landeplatz und den feindlichen Symbolen zu schaffen, die plötzlich auftauchten, als die Wachen ihre Deckung verließen und sich nach Osten zurückzogen. Geary zoomte das Bild heran und sah durch die Staubschichten in der Luft Infrarot-Anzeigen, die für Gruppen standen, die aus ihren Verstecken kamen und den Rückzug antraten. Er veränderte die Darstellung auf seinem Display, bis er wieder eine Fülle kleiner Bilder vor sich hatte, die das Geschehen aus dem Blickwinkel der Marines zeigten. Dort war zu erkennen, wie die Syndiks vor ihnen zurückwichen. Zielerfassungslösungen tanzten über die Displays der Marines, sobald sie den Gegner zu sehen bekamen. Die Syndiks, die selbst nur leicht gepanzert waren, führten gänzlich ungeschützte Zivilisten durch das Lager. Die Marines hatten die Waffen angelegt, doch die Syndiks verhielten sich der Abmachung gemäß, während sie in Richtung Osten eilten.
Geary hielt inne, als er die Stimme eines Sergeants hörte: »Denken Sie nicht mal drüber nach, Cintora.«
»Ich habe nur Zielübungen gemacht«, protestierte Cintora.
»Wenn Sie den Abzug betätigen, stelle ich Sie vors Kriegsgericht.«
»Sarge, sie haben Tulira und Patal auf dem G …«
»Runter mit der Waffe, und zwar sofort!«
Geary verharrte noch einen Moment auf dem Kanal, aber offenbar hatte Cintora eingesehen, dass der Sergeant es ernst gemeint hatte. Man benötigte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was sich als Nächstes abgespielt hätte, wäre der Sergeant nicht so wachsam gewesen, oder hätte der den gleichen Zorn auf die Syndiks verspürt wie dieser Cintora.
Eine weitere dringende Nachricht ließ Geary wieder auf die Gesamtdarstellung blicken. »Unsere Drohnen haben einen weiteren Konvoi entdeckt, der sich aus Nordwesten dem Lager nähert, außerdem ist aus Südwesten eine Gruppe zu Fuß dorthin unterwegs«, berichtete Colonel Carabali. »Ich bitte darum, dass die Flotte beide Ziele unter Beschuss nimmt.«
Er betrachtete die von den Gefechtssystemen vorgeschlagene Feuerlösung, genehmigte sie und verfolgte mit, wie eine weitere Ladung kinetischer Projektile von den Schiffen ausgestoßen wurde.