Er sah mit an, was sich unten abspielte. Die Syndiks schossen auf die startenden Shuttles. Die erwiderten das Feuer und mussten dabei auf die Positionen zielen, von denen aus sie attackiert wurden. Die Syndiks waren in ihrer Tarnkleidung noch immer so gut wie unsichtbar.
Von oben kommend rasten über hundert kinetische Projektile durch den Luftraum, in dem die Shuttles unterwegs waren. Nur noch Sekunden blieben, um in Sicherheit zu gelangen.
Es war schon eigenartig, wie lange sich ein paar Sekunden hinziehen konnten.
Sechs
Die Flugbahnen der Shuttles und der kinetischen Geschosse verschmolzen für einen Moment, dann trennten sie sich wieder voneinander. Die Shuttles bemühten sich, so schnell wie möglich an Höhe zu gewinnen, während die Steine noch das letzte Stück auf ihrem Sturz auf die Planetenoberfläche zurücklegten. Geary hörte, wie die Shuttlepiloten ihren Unmut über das Kommandonetz kundtaten.
»Eins von diesen verdammten Dingern hätte mir fast ein Ohr abgerissen!«
»Schwere Turbulenzen! Versuche, auf Kurs zu bleiben!«
»Wir haben unsere Hauptluke verloren!« Das war Shuttle zwei. »Achtet darauf, dass die Marines angeschnallt sind und dass ihre Panzerung versiegelt ist. Die ist das Einzige, was sie vom Vakuum trennt.«
Unter den fliehenden Shuttles verging der gesamte zentrale Bereich des Arbeitslagers in einer gigantischen Wolke aus Staub und Trümmern, die kilometerweit hochgewirbelt wurden, als die kinetischen Projektile alle gleichzeitig einschlugen. Die Wolke schoss so schnell in die Höhe, als würde eine riesige Hand versuchen, nach den Shuttles zu greifen, um sie zurückzuhalten.
Dann erfolgte eine weitere Explosion inmitten der Überreste des Lagers, und noch eine, stärker sogar. Eine pilzförmige Wolke stieg bis in den Himmel auf.
»Eine der Syndik-Bomben ist explodiert«, meldete der Ablauf-Wachhabende.
»Kommt schon!«, spornte Desjani die Shuttles im Flüsterton an, die vor den Schockwellen und Trümmern davonflogen.
»Wir sind getroffen! Schaden an Antriebseinheit an Steuerbord! Bleiben auf Kurs, Maximalgeschwindigkeit um zwanzig Prozent gesunken!«
»Verlassen jetzt die Gefahrenzone.«
»Mehrere Treffer an der Unterseite. Zwei Durchschläge. Schalten um auf Reservesteuerkontrolle.«
Geary war sich nicht sicher, welches der genaue Zeitpunkt war, an dem er die Krisensituation als ausgestanden bezeichnen konnte. Doch irgendwann war der Moment gekommen, da er wusste, dass sie es geschafft hatten.
»Alle Shuttles aus der Gefahrenzone. Die Colossus nähert sich Shuttle zwei für ein Notfall-Andockmanöver. Shuttles eins und zwei fliegen wie vorgesehen zur Spartan und zur Guardian.«
»Okay«, meinte Desjani grinsend. »Jetzt können Sie sagen, es war mein Plan.«
»Mit Vergnügen«, stimmte Geary ihr zu und hätte vor Erleichterung fast gelacht. Er öffnete den Kommandokanal. »An Relentless und Reprisal: hervorragende Treffsicherheit. Alle Schiffe haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Jeder Marine und jedes Shuttle haben weit mehr geleistet, als es die Pflicht von ihnen verlangen kann. Sobald das letzte Shuttle an Bord gebracht worden ist, wird die Flotte sich zum Sprungpunkt nach Padronis begeben.«
Weit unter der Flotte rührten die einzigen Bewegungen in den Überresten des Arbeitslagers von den Trümmern her, die vom Himmel herabregneten, während an einer Seite der Rauchpilz immer noch anwuchs. Unwillkürlich musste Desjani lächeln. »Den Selbstmordteil ihres Auftrags haben diese Syndiks zumindest erfolgreich ausgeführt.«
Geary dachte darüber nach, was diese Spezialeinheit seinen Marines, seinen Shuttles und den Tausenden befreiter Gefangener hätte antun können, wäre auch der restliche Auftrag erfüllt worden, dann nickte er zustimmend.
Die nächste halbe Stunde verlief nach der vorangegangenen Hektik fast einschläfernd ereignislos, da die Shuttles damit beschäftigt waren, zu ihrem eigentlichen Mutterschiff zurückzukehren. Auf dem Planeten unter ihnen trafen derweil die Rebellen und Syndik-Treuen aufeinander und lieferten sich heftige Gefechte. Keiner von beiden Seiten stand offenbar der Sinn danach, sich noch weiter um die Allianz-Flotte zu kümmern. »Müssen wir noch länger diese Wachen beschützen, die mit ihren Familien geflohen sind?«, wollte Geary wissen.
»Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie verfolgt werden, Sir. Wahrscheinlich werden die meisten Leute glauben, dass sie in den Trümmern des Lagers den Tod gefunden haben.«
»Gut.« Nach der Aufregung rund um die Befreiung der Kriegsgefangenen brannte Geary jetzt darauf, der Flotte endlich den Befehl geben zu können, in Richtung Sprungpunkt aufzubrechen. Während er nervös abwartete, ging ihm eine Frage durch den Kopf, und er sah Desjani an. »Warum nennen die Marines diese Täuschungsvorrichtung eigentlich Persischer Esel?«
Sie antwortete mit einem fragenden Gesichtsausdruck. »Es gibt bestimmt einen Grund dafür. Lieutenant Casque, Sie haben doch im Augenblick nichts zu tun. Sehen Sie mal in der Datenbank nach, ob Sie da eine Erklärung finden können.«
»Und wer ist bloß auf die Idee gekommen, eine Atomwaffe als Hupnum zu bezeichnen? Das klingt nach irgendwelchen niedlichen Fabelwesen.«
Diesmal hob Desjani hilflos die Hände, da sie abermals um eine Erklärung verlegen war. »Darauf hat man sich bestimmt einfach so geeinigt. Irgendwer hat den Begriff geprägt, und andere haben ihn übernommen. Wie hießen Hupnums denn in … äh … in der Vergangenheit?«
Geary fragte sich, was Desjani eigentlich hatte sagen wollen, um seine Zeit vor einem Jahrhundert zu beschreiben. »Wir nannten sie PNW. Portable Nuklearwaffen. Kurz und knapp.«
»Aber portabel sind alle Nuklearwaffen«, wandte Desjani ein. »Auch wenn sie sich in einem Flugkörper oder auf einem Schiff befinden, sind sie immer noch portabel.«
Er warf ihr einen giftigen Blick zu. »Sagen Sie, haben Sie irgendwann mal als Lektorin in der Literaturagentur Ihres Onkels gearbeitet?«
»Ein paar Mal. Aber was hat das jetzt mit den Nuklearwaffen zu tun?«
»Gefällt Ihnen der Begriff Hupnum, Captain Desjani?«
»Nein! Wir in der Flotte bezeichnen sie üblicherweise als NBMs, Nuklear bewaffnete Marines.«
»NBMs?« Warum gab es in dieser Welt kein Handbuch, das einem all diese Dinge beschreiben konnte? Aber wenn er jetzt so darüber nachdachte, konnte er sich daran erinnern, dass er vereinzelt mitbekommen hatte, wie Matrosen dieses Kürzel benutzten.
»Ja.« Desjani machte eine entschuldigende Geste. »Nuklear bewaffnete Marines, das ist ein geflügeltes Wort unter Matrosen für etwas, das sie für keine gute Idee halten.«
Geary hatte Mühe, ernsthaft zu bleiben. »Manche Dinge ändern sich wohl nie. Glauben Sie, es gab jemals eine Zeit, in der Marines und Matrosen gut miteinander ausgekommen sind?«
»Wir kommen gut miteinander aus, wenn planetarische Streitkräfte uns das Leben schwer machen wollen«, betonte sie. »Und wenn es eine Mission zu erledigen gilt.«
»Und in Kneipen?«
»Das läuft üblicherweise nicht ganz so gut. Es sei denn, in der Kneipe tummeln sich auch ein paar Leute von den planetarischen Streitkräften.«
»Ganz wie früher«, meinte Geary.
»Captain?«, meldete sich Lieutenant Casque zu Wort. »Die Datenbank sagt, dass die Persischen Esel ihren Namen aus einer antiken Geschichte haben. Diese Leute, die sogenannten Perser, überfielen ein anderes Volk, gerieten dabei aber in eine Falle. Der Feind war mobiler als sie selbst, sodass sie sich nachts zurückziehen mussten, damit man sie nicht bemerkte. Diese Perser hatten diese Objekte bei sich, diese Esel. Der Feind hatte noch nie Esel gesehen, die sehr viel Lärm machten. Also ließen die Perser ihre Esel zurück, damit der Feind glaubte, sie säßen immer noch in der Falle. Ich vermute, bei diesen Eseln handelte es sich um eine Art primitive Täuschungsvorrichtung.«