»Sie haben ihn umgebracht?«, fragte Rione im Flüsterton.
»Das weiß ich nicht. Bei meinen Vorfahren, Vic, ich weiß es nicht. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört, und auch nicht von den anderen, die fortgebracht wurden.« Er zuckte mit den Schultern und schaute betrübt drein. »Von unserem Schiff waren noch ein paar andere in diesem Lager. Ich glaube, keiner von ihnen wurde auf die Dauntless gebracht, aber wir haben uns viel unterhalten. Reden war so ziemlich das Einzige, was man im Lager machen konnte, wenn die Syndiks einen nicht gerade dazu zwangen, Gräben auszuheben oder Steine zu klopfen. Keiner wusste irgendetwas darüber, was mit Paol geschehen ist. Ich wünschte, ich könnte dir noch seine letzten Worte weitergeben, aber als die Syndiks uns trennten, war er eigentlich gar nicht ansprechbar.«
Rione brachte ein Lächeln zustande. »Ich weiß, welche Worte er gesagt hätte.«
Nach kurzem Zögern sah Fensin wieder Geary an. »Im Shuttle wurde viel erzählt. Jeder wollte das Neueste erfahren. Da war auch die Rede davon, dass da etwas zwischen einer Politikerin und einem Flottenkommandanten läuft.«
»Captain Geary und ich hatten vorübergehend eine Affäre«, erklärte Rione ohne zu zögern.
»Die in dem Moment endete, als sie erfuhr, dass ihr Ehemann womöglich noch lebt«, fügte Geary hinzu. Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber es kam ihr nahe genug, dass er verantworten konnte, es zu sagen.
Commander Fensin nickte. Mit einem Mal wirkte er viel hagerer. »Ich hätte Vic daraus keinen Vorwurf gemacht, Sir. Vielleicht noch, bevor ich in dieses Arbeitslager kam. Als ich noch dachte, dass Ehre nur ein paar simple Regeln kennt. Jetzt weiß ich, wie es ist, wenn man glaubt, jemanden niemals wiederzusehen, weil der Krieg kein Ende nimmt. Man sieht die Leute im Arbeitslager sterben; Leute, die fast ihr ganzes Leben dort zugebracht haben, und man denkt sich, dass es einem selbst irgendwann ganz genauso ergehen wird. Viele Gefangene haben in diesem Lager neue Partner gefunden, weil sie davon überzeugt waren, nicht mehr zu ihren früheren Lieben zurückkehren zu können. Verheiratete Menschen, die neue Beziehungen begonnen haben. Wenn sie heimkehren, wird das für alle Beteiligten eine schmerzhafte Sache werden.« Er sah Rione an. »Mir ist es auch so ergangen.«
Riones Gesichtsausdruck war so sanft, wie Geary es noch nie erlebt und auch nicht für möglich gehalten hatte. Es war, als hätte die Begegnung mit diesem Mann aus ihrer Vergangenheit die Erinnerungen an bessere Zeiten erwachen lassen. »Ist sie mit auf dieses Schiff gekommen?«
»Sie ist tot. Sie starb vor drei Monaten. Die Strahlung auf diesem Planeten verursacht manchmal Probleme, und die Syndiks geben kein Geld für kostspielige Behandlungen ihrer Gefangenen aus.« Fensins Augen nahmen einen leidenden Ausdruck an. »Mögen die lebenden Sterne mir verzeihen, aber das hat mir alles viel leichter gemacht. Ich weiß nicht, ob meine Frau noch lebt, aber jetzt stehe ich wenigstens nicht vor einer Wahl. Ich bin kein Ungeheuer, Vic, aber ich muss immer wieder daran denken, was mir so erspart geblieben ist.«
»Ich verstehe, was du meinst«, erwiderte Rione und griff nach Commander Fensins Arm. »Komm, ich begleite dich in die Krankenstation, damit du so wie die anderen untersucht werden kannst.« Dann gingen sie los, während Geary ihnen nachsah.
Desjani räusperte sich leise und murmelte: »Bei der Gnade unserer Vorfahren.«
»Ja, das ist schon so eine Sache.«
»Schön zu sehen, dass sie auch menschlich sein kann«, fügte sie hinzu. »Ich rede von Vic.«
Er sah Desjani ein wenig skeptisch an. »Ihnen ist doch klar, wie sie reagieren wird, wenn Sie sie so anreden.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, gab sie zurück. »Aber keine Sorge, Sir, ich werde den richtigen Moment dafür gut auswählen.«
Geary schickte ein Stoßgebet zu den Vorfahren und hoffte darauf, sich nicht in der unmittelbaren Nähe der beiden aufzuhalten, wenn Desjani ihre Ankündigung wahrmachte. »Wie viele der befreiten Gefangenen werden in der Lage sein, Ihre Crew zu verstärken?«
»Das weiß ich noch nicht, Sir. Das ist so wie bei Sutrah. Wir reden mit jedem Einzelnen von ihnen, dann bewerten wir, welche Fähigkeiten sie besitzen oder wie eingerostet sie sind. Danach wird das Personalverwaltungssystem uns dabei helfen zu entscheiden, wer wo am besten aufgehoben ist.«
»Könnten Sie …«
»Commander Fensin bleibt auf jeden Fall an Bord der Dauntless, Sir«, erklärte sie und warf ihm einen kühlen Blick zu. »Ich will doch hoffen, dass dieser Commander die Politikerin für sich beansprucht, damit wir sie vom Hals haben.«
»Wissen Sie, Sie dürfen nette Dinge auch tun, um einfach nur nett zu sein, sogar ihr gegenüber.«
»Tatsächlich?« Desjanis Miene verriet keine Regung, als sie zu den befreiten Gefangenen schaute. »Ich muss die anderen auf der Dauntless willkommen heißen, Sir.«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich sie bei der Gelegenheit auch in der Flotte willkommen heiße?«
»Natürlich nicht, Sir.« Sie sah ihn betrübt an. »Ich weiß, wie wenig Sie die Reaktionen mögen, die das nach sich ziehen wird.«
»Tja, aber es gehört nun mal zu meinen Aufgaben, diese Leute zu begrüßen.«
Es war eigenartig, zwischen den Reihen aus ehemaligen Gefangenen hindurchzugehen, die zum Teil Jahrzehnte im Arbeitslager verbracht hatten, und dabei zu wissen, dass jeder von ihnen lange nach ihm zur Welt gekommen war. Bei der Crew der Dauntless hatte er dieses Gefühl nicht mehr. Dort war es ihm gelungen, diese Tatsache zu vergessen. Aber durch die befreiten Gefangenen kamen diese Gefühle nun alle wieder und ihm wurde vor Augen geführt, dass ein jeder in einem Universum aufgewachsen war, in dem Black Jack Geary bereits als Legende galt.
Eine Unteroffizierin, die viele Dienstjahre hinter sich hatte, sprach ihn plötzlich an. »Ich kannte jemanden von der Merlon, Sir. Als ich noch ein Kind war.«
Geary verspürte ein sonderbar hohles Gefühl, als er stehen blieb, um ihr zuzuhören. »Von der Merlon?«
»Ja, Sir. Jasmin Holaran. Sie war … ähm …«
»Sie war der Höllenspeer-Batterie Eins Alpha zugeteilt gewesen.«
»Genau, Sir!« Die Frau strahlte ihn an. »Als sie im Ruhestand war, lebte sie in unserer Nachbarschaft. Wir besuchten sie, damit sie uns Geschichten erzählte. Sie sprach immer davon, dass alles stimmt, was die Legenden über Sie sagen, Sir.«
»Tatsächlich?« Er konnte sich an Holarans Gesicht erinnern. Er wusste noch, dass er die junge Matrosin einmal hatte verwarnen müssen, nachdem sie bei einem Landurlaub in eine Schlägerei geraten war. Er sah sie vor sich bei der Beförderungszeremonie, und ihm kam ins Gedächtnis, wie er die Höllenspeer-Batterie, zu der auch Holaran gehört hatte, wegen ihrer überragenden Ergebnisse beim Bereitschaftstest gelobt hatte. Sie war eine fähige Matrosin gewesen, die sich hin und wieder Ärger einhandelte, nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte zu jenen Leuten gehört, deren Leistungen als durchschnittlich bezeichnet werden, die ihre Arbeit erledigen und die tagtäglich dafür sorgen, dass ein Schiff funktioniert.
Batterie Eins Alpha war beim Kampf gegen die Syndiks schon früh funktionsunfähig geschossen worden, aber Geary hatte nie erfahren, wer von der Besatzung den Angriff überlebt hatte. Holaran war also unter den Überlebenden gewesen, und sie hatte es geschafft, die Merlon zu verlassen. Und auch die nachfolgenden Jahre im Kriegsdienst hatte sie überlebt, was so vielen anderen nicht vergönnt worden war. Dann hatte sie als Rentnerin neugierigen Kindern ihre Geschichte erzählt, und als sie schließlich in hohem Alter starb, da trieb er noch immer im Kälteschlaf durchs All.