»Ein Jahrhundert ist nicht lange genug, um die wirklich wichtigen Dinge zu vergessen«, konterte Desjani und sah zu Geary.
Der schlug mit der Faust auf den Tisch, um Fensins Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ihm behagte nicht, was Desjani gesagt hatte, obwohl – oder gerade weil? – es der Wahrheit entsprach. »Was ist das Ziel dieser Verschwörung des Schweigens? Warum hat uns niemand sofort gesagt, was diese drei verbrochen haben?«
»Wir wollten sie selbst umbringen«, antwortete Fensin ganz selbstverständlich. »Wir beriefen heimlich ein Kriegsgericht ein und kamen in allen drei Fällen zu dem Urteil, dass sie Verrat begangen hatten. Die Strafe für Verrat in Kriegszeiten ist der Tod. Wir wollten sicherstellen, dass diese Urteile vollstreckt werden, bevor es den dreien gelingen konnte, sich einen Anwalt zu nehmen, um eine formelle Anklage zu erreichen und dabei auf geringfügigere Vergehen zu plädieren. Und ehrlich gesagt wollten wir auch diejenigen rächen, die ihretwegen gestorben waren.« Er sah sich im Konferenzraum um. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist. Ich … Haben wir hier Zugriff auf Bilder des Lagers? Bevor Sie uns rausgeholt haben?«
»Ja, natürlich.« Desjani tippte ein paar Befehle ein. Über dem Tisch tauchte eine Draufsicht des Arbeitslagers auf dem dritten Planeten auf, wie es ausgesehen hatte, bevor es beim Kampf um die Befreiung der Gefangenen in einen Trümmerhaufen verwandelt worden war. Als das Bild vergrößert wurde, fiel Geary ein weitläufiges freies Feld auf, auf dem teilweise Steinblöcke in langen Reihen angeordnet waren. »Ein Friedhof.«
»Ja«, bestätigte Fensin. »Dieses Arbeitslager existierte rund achtzig Jahre lang. Eine ganze Generation Gefangener ist dort alt geworden und gestorben. Allzu viele ältere Insassen gab es nicht, dafür waren die Bedingungen zu rau und die medizinische Versorgung zu schlecht.« Sein Blick ruhte auf den Grabsteinen. »Wir alle waren davon überzeugt, dass jeder von uns früher oder später dort enden würde. Es fand nie ein Gefangenenaustausch statt, warum sollten wir also damit rechnen, der Krieg könnte jemals ein Ende nehmen? Nach fünf, zehn oder zwanzig Jahren bleibt selbst von der festesten Überzeugung nichts anderes übrig als Resignation. Wir würden niemals unsere Familien wiedersehen, wir würden niemals heimkehren. Wir hatten nur noch einander – und das, was wir als Mitglieder des Allianz-Militärs noch an Würde vorweisen konnten.«
Er schaute Rione eindringlich an, als sei sie diejenige, die er vor allem überzeugen wollte. »Und das haben sie verraten. Uns haben sie verraten. Es war alles, was wir noch hatten, und sie nahmen es uns. Da ist es doch klar, dass wir sie umbringen wollten.«
Eine Weile saßen sie alle schweigend da, schließlich deutete Desjani auf das Bild, das immer noch über dem Tisch schwebte. »Haben die Marines Aufzeichnungen über diese Gräber bekommen, als sie unten waren? Die Namen derjenigen, die dort beerdigt wurden?«
»Das bezweifle ich.« Fensin tippte mit einem Finger an seine Stirn. »Das war auch nicht nötig. Jeder von uns musste sich einen Teil der Namen merken. Meine Aufgabe war es, alle Namen auswendig zu lernen, die mit F anfangen. Die Liste der Toten steckt in unseren Köpfen. Wir konnten sie nicht mit nach Hause nehmen, weil sie sich bereits den Vorfahren angeschlossen hatten. Aber wir werden ihre Namen zu ihren Familien mitnehmen.«
Einen Moment lang stellte sich Geary lebhaft vor, wie diese Gefangenen penibel die Namen derer durcharbeiteten, die gestorben waren, wie sie die Listen untereinander abglichen, wie sie sich die Namen auf die einzige Weise einprägten, die ihnen zur Verfügung stand. Jahr um Jahr wurden die Listen länger und länger, und keiner wusste, ob jemals irgendjemand in der Allianz all diese Namen zu hören bekommen würde. Und dennoch lernten sie sie weiter auswendig. Geary konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die Gefangenen sich in diesem Lager gefühlt haben mussten. Sie hatten allen Grund, davon auszugehen, dass dieses Lager ihr Grab werden würde. Und genauso verstand er ihr Bedürfnis nach Ritualen und ihr Gefühl, verraten worden zu sein. »Also gut.« Geary sah Rione fragend an.
Sie senkte den Blick und nickte schließlich. »Ich glaube ihm.«
»Ich auch«, fügte Desjani prompt hinzu.
Geary berührte die Komm-Kontrolle. »Captain Tulev, setzen Sie die drei Senioroffiziere in ein Shuttle mit Marines als Bewacher. Bringen Sie sie zur …« Er zögerte, da er ein Schiff benötigte, auf dem sich keine ehemaligen Kriegsgefangenen von Heradao befanden, doch die waren auf alle Kriegsschiffe verteilt worden.
Genau. Alle Kriegsschiffe.
»Zur Titan. Bringen Sie sie zur Titan mit dem Befehl, dass sie bis auf Weiteres in ihrem Quartier bleiben und bewacht werden müssen. Alle drei stehen unter Arrest.«
Tulev nickte, da ihn diese Mitteilung nicht zu überraschen schien. »Wie lautet die Anklage? Wir sind verpflichtet, ihnen den Grund zu nennen, wenn wir sie unter Arrest stellen.«
»Verrat und Pflichtversäumnis im Angesicht des Feindes. Die drei hatten mir angekündigt, dass sie einen Bericht zusammenstellen wollten. Sorgen Sie dafür, dass ihnen die Mittel zur Verfügung stehen, um diesen Bericht verfassen zu können. Ich will ihn lesen.« Das stimmte allerdings nicht so ganz, denn wenn Commander Fensin die Wahrheit gesagt hatte, dann wollte er eigentlich nicht lesen, wie diese Offiziere ihr Verhalten rechtfertigten. Andererseits war es seine Pflicht, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie zu ihrer Verteidigung vorbrachten.
Nachdem Tulev die Verbindung beendet hatte, wandte sich Geary wieder an Fensin. »Vielen Dank, Commander Fensin. Ich glaube, wenn Ihre Schilderung von Ihren ehemaligen Mitgefangenen bestätigt wird, dann kann ich wohl versprechen, dass ein Kriegsgericht der Allianz zum gleichen Urteil kommen wird.«
»Müssen wir so lange warten?«, fragte Fensin mit erschreckender Gelassenheit. »Sie könnten doch ihre Erschießung sofort anordnen.«
»So verfahre ich nicht, Commander. Wenn Ihre Aussagen zutreffen, dann werden die drei sich mit ihrem eigenen Bericht keinen Gefallen tun, weil dann niemand die Notwendigkeit anzweifeln wird, dass das Urteil nur so und nicht anders lauten kann.«
»Aber Captain Gazin ist schon so alt«, wandte Fensin ein. »Möglicherweise überlebt sie die Rückkehr ins Allianz-Gebiet nicht, und dann entgeht sie ihrem verdienten Schicksal.«
Desjani antwortete darauf in ihrem energischen Befehlston: »Wenn sie stirbt, dann werden die lebenden Sterne über sie urteilen, Commander. Diesem Urteil kann sich niemand entziehen. Sie sind Offizier der Allianz-Flotte, Commander Fensin. Daran haben Sie während Ihrer Gefangenschaft festgehalten, und jetzt, da Sie zurück in der Flotte sind, sollten Sie es nicht vergessen.«
Riones Miene war wie versteinert, aber Fensin sah Desjani nur sekundenlang an, dann nickte er. »Ja, Captain. Verzeihen Sie mir.«
»Es gibt nichts, was Ihnen verziehen werden müsste«, versicherte sie ihm. »Sie sind durch die Hölle gegangen, und Sie haben Ihre Pflicht erfüllt, indem Sie uns die Wahrheit gesagt haben. Tun Sie weiter Ihre Pflicht, Commander. Sie waren immer ein Teil der Flotte, aber jetzt sind Sie tatsächlich wieder bei ihr.«
»Ja, Captain«, wiederholte er und setzte sich etwas gerader hin.
Rione hob den Kopf und blickte Geary an. »Wenn sonst nichts mehr ist, würde ich gern etwas Zeit mit Commander Fensin verbringen und mich dann darum kümmern, dass seine medizinische Untersuchung abgeschlossen wird.«
»Ja, natürlich.« Geary und Desjani standen gleichzeitig auf und verließen den Konferenzraum. Als sich die Luke hinter ihnen schloss, drehte sich Geary um und sah noch, dass Rione nach wie vor Fensins Hand hielt. »Verdammt«, murmelte er.
»Verdammt«, wiederholte Desjani bestätigend. »Und wir sollen sie wirklich nicht jetzt schon erschießen? Ganz sicher?«