Das Zischen war dicht hinter ihm. Er drehte sich um und sah Gollums Augen wie zwei kleine grüne Lampen den ansteigenden Gang heraufkommen. Entsetzt versuchte er schneller zu rennen, aber da stieß er mit den Zehen gegen einen Höcker im Boden und fiel flach hin, sein kleines Schwert unterm Leib.
Im nächsten Augenblick war Gollum bei ihm. Doch bevor Bilbo etwas tun konnte, Luft schnappen, sich aufrappeln oder das Schwert in Stellung bringen, rannte Gollum fluchend und flüsternd an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten.
Was hatte das zu bedeuten? Gollum konnte doch im Dunkeln sehen! Sogar von hinten sah Bilbo noch den fahlen Lichtschein seiner Augen. Mühsam stand er auf und steckte sein Schwert, das nun wieder schwach schimmerte, in die Scheide; dann schlich er Gollum vorsichtig nach. Was hätte er sonst tun sollen? Zu Gollums See zurückzugehen hätte ihm nichts genützt. Wenn er Gollum folgte, würde der ihn vielleicht zu einem Ausweg führen, ohne es zu wollen.
»Verflucht soll er sein! Verflucht soll er sein! Verflucht soll er sein, der Beutlin!«, zischte Gollum. »Er ist weg! Was hat er in seinen Taschen? Ach, erraten, erraten, mein Schatz! Er hat ihn gefunden, ja, er muss ihn haben. Mein Geburtstagsgeschenk!«
Bilbo hörte gespannt zu. Allmählich konnte er nun auch etwas erraten. Er beeilte sich ein wenig, um so nahe, wie er sich getraute, an Gollum heranzukommen, der noch immer schnell ausschritt, ohne sich umzublicken, aber ab und zu das Gesicht von einer Seite zur anderen kehrend, wie Bilbo an dem schwachen Lichtschein an den Wänden sehen konnte.
»Mein Geburtstagsgeschenk! Verflucht soll er sein! Wie konnten wir es nur verlieren, mein Schatz? Ja, so war’s. Als wir zuletzt hier entlanggekommen sind, als wir dem widerlichen kleinen Quieker den Hals umgedreht haben. Da war’s. Er muss uns runtergerutscht sein, nach all den Jahren! Und jetzt ist er weg, gollum!«
Gollum setzte sich hin und fing an zu weinen, mit einem pfeifenden und gurgelnden Geräusch, das sich grässlich anhörte. Bilbo blieb stehen und drückte sich platt gegen die Stollenwand. Nach einer Weile hörte Gollums Geheul auf, und er begann zu reden, wie im Streit mit sich selbst.
»Dahin zurückgehn und suchen? Nein, nützt nichts. Wissen gar nicht mehr, wo wir überall gewesen sind. Und es hat keinen Sinn. Der Beutlin hat ihn in seinen Taschen; der freche Schnüffler hat ihn gefunden, das sagen wir uns.
Können nur raten, Schatz, nur raten. Wissen können wir’s erst, wenn wir den frechen Kerl gefunden und ausgequetscht haben. Aber er weiß ja nicht, was das Geburtstagsgeschenk kann, nicht? Der behält es bloß in der Tasche. Der weiß nicht Bescheid und wird nicht weit kommen. Hat sich verirrt, der freche Schnüffler. Weiß nicht, wo es wieder raus geht. Hat er gesagt.
Hat er gesagt, ja, aber der ist gerissen! Sagt nicht, was er denkt. Wollte nicht sagen, was er in den Taschen hat. Er weiß, wo. Er hat hereingefunden, er weiß auch, wo es hinausgeht, ja. Er will zum Hintereingang. Zum Hintereingang, da ist er hin!
Dann werden ihn die Orks schnappen. Da kommt er nicht raus, mein Schatz!
Ssss, sss, gollum! Orks! Ja, aber wenn er den Schatz hat, unser Geburtstagsgeschenk, dann kriegen’s die Orks, gollum! Sie werden’s finden, sie werden herauskriegen, was es damit auf sich hat. Wir werden nie wieder ruhig schlafen können, nie wieder, gollum! Ein Ork wird ihn aufstecken, und dann kann niemand ihn sehn. Er wird da sein, aber nicht zu sehn. Nicht mal unsere feinen Augen können ihn dann sehn. Er kommt still und leise und schnappt uns, gollum, gollum!
Dann hör auf zu reden, Schatz, und beeil dich! Wenn der Beutlin den Weg genommen hat, müssen wir schnell hin und nachsehen. Los, es ist nicht weit! Beeil dich!«
Gollum sprang auf und trabte in schnellem Tempo davon. Bilbo rannte ihm nach, immer noch vorsichtig, obwohl nun hauptsächlich besorgt, nicht wieder über einen Stumpf zu stolpern und geräuschvoll zu stürzen. Hoffnung und Erstaunen wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Anscheinend war der Ring, den er trug, ein Zauberring: Er machte unsichtbar! Natürlich wusste er aus uralten Geschichten, dass es solche Ringe gibt; aber es war schwer zu glauben, dass er tatsächlich einen gefunden haben sollte, rein zufällig. Immerhin, es ließ sich nicht leugnen: Gollum mit seinen Nachtaugen war kaum einen Schritt entfernt an ihm vorbeigerannt.
Und weiter ging es, Gollum platschfüßig voraus, zischend und fluchend, Bilbo hinterdrein, so leise, wie man nur auf Hobbitsohlen laufen kann. Bald kamen sie an die Stellen, wo Bilbo, als er den Weg herabkam, Einmündungen von Seitengängen bemerkt hatte, bald auf der einen, bald auf der andern Seite. Gollum begann gleich, sie zu zählen.
»Einer links, ja. Einer rechts, ja. Zwei rechts, ja, ja. Zwei links, ja, ja.« Und so immer weiter.
Als die Zahlen höher wurden, lief er langsamer und begann zaghaft und weinerlich zu werden, denn er entfernte sich immer weiter von seinem See und bekam es mit der Angst. Vielleicht waren Orks in der Nähe, und er hatte seinen Ring nicht mehr. Schließlich blieb er bei einer niedrigen Öffnung auf der linken Seite stehen.
»Sieben rechts, ja. Sechs links, ja!«, flüsterte er. »Hier ist es. Hier geht es zum Hintereingang. Das ist der Durchgang.«
Er lugte hinein und zuckte zurück. »Aber da dürfen wir nicht rein, Schatz, dürfen wir nicht! Orks sind da unten. Alles voller Orks. Können wir doch riechen. Ssss!
Was machen wir nun? Verflucht und zerstückelt sollen sie sein! Wir müssen hier warten, Schatz, bisschen warten und mal sehn.«
Nun saßen sie beide fest. Durch Gollum hatte Bilbo nun zwar den Weg zum Ausgang gefunden, aber der Weg war versperrt, denn Gollum hockte sich genau in die Öffnung, und die Augen schimmerten kalt in seinem Kopf, den er tief eingezogen zwischen den Knien hin und her wiegte.
Leiser als eine Maus kroch Bilbo von der Wand weg, aber Gollum erstarrte sofort, schnüffelte, und seine Augen wurden grün. Er zischte leise, aber drohend. Sehen konnte er den Hobbit nicht, aber nun war er auf der Hut, und er hatte noch andere Sinne, Ohr und Nase, die in der Dunkelheit geschärft waren. Er schien sich nun tief geduckt zu haben, die Hände flach auf dem Boden gespreizt, den Kopf vorgestreckt, die Nase fast am Boden. Obwohl er im Schimmer seiner eigenen Augen nur als ein schwarzer Schatten zu erkennen war, konnte Bilbo doch sehen oder spüren, dass er gespannt war wie eine Bogensehne, geduckt zum Sprung.
Bilbo hielt fast den Atem an und erstarrte ebenfalls. Er überlegte verzweifelt. Er musste hier weg, raus aus dieser entsetzlichen Finsternis, solange er noch bei Kräften war. Er musste sich durchkämpfen. Er musste diesem üblen Burschen die Augen ausstechen, ihn töten. Der wollte ihn ja auch töten. Nein, das wäre kein fairer Kampf. Er war nun unsichtbar. Gollum hatte kein Schwert. Eigentlich hatte ihn Gollum bis jetzt noch nicht bedroht oder zu töten versucht. Und wie elend der Kerl dran war, einsam und verlassen! Etwas wie Mitleid, vermischt mit Abscheu, überkam ihn, ein plötzliches Verstehen, der kurze Einblick in die endlose Folge namenloser Tage ohne Licht oder Hoffnung auf Besserung, harter Stein, kalter Fisch, Schleichen und Flüstern. All dies ging ihm in Sekundenschnelle durch den Kopf. Er zitterte. Und gleich darauf, ebenso schnell und plötzlich, wie von einer neuen Entschlusskraft getragen, sprang er.
Für einen Menschen wäre es kein großer Sprung gewesen, aber es war ein Sprung ins Dunkle. Glatt über Gollums Kopf sprang er hinweg, sieben Fuß weit und drei Fuß hoch; und beinah, was er freilich nicht wusste, hätte er sich an der niedrigen Decke des Durchgangs den Schädel eingerannt.
Gollum warf sich zurück und packte nach ihm, als er über ihn hinwegflog, aber zu spät: Seine Hände griffen ins Leere, und Bilbo, der sicher auf seinen kräftigen Füßen landete, rannte in den neuen Gang hinab. Er schaute sich nicht um nach Gollum. Zuerst war ihm das Zischen und Fluchen dicht auf den Fersen, dann blieb es zurück. Auf einmal hörte er einen Schrei voller Hass und Verzweiflung, einen Schrei, der ihm das Blut in den Adern stocken ließ. Gollum war besiegt. Er wagte sich nicht weiter. Sein Opfer war ihm entkommen, und das Einzige, woran er je gehangen hatte, sein Schatz, war fort. Der Schrei zerriss Bilbo fast das Herz, aber er ging weiter. Schwach wie ein Echo, aber drohend, rief die Stimme ihm nach: