»Er ist schließlich mein Freund«, sagte der Zauberer, »und kein übles Kerlchen. Ich trage eine Verantwortung für ihn. Ich wollte um alles in der Welt, ihr hättet ihn nicht verloren.«
Die Zwerge verlangten zu wissen, warum man den Hobbit überhaupt mitgenommen habe, warum er sich nicht an seine Freunde gehalten habe und mit ihnen gekommen sei, und warum der Zauberer nicht jemand Vernünftigeren mitgenommen habe. »Bis jetzt hat er uns mehr Ärger als Nutzen gebracht«, sagte einer. »Wenn wir noch mal in diese abscheulichen Stollen zurück müssen, um nach ihm zu suchen, dann sag ich, er kann mir gestohlen bleiben.«
Gandalf wurde böse. »Ich hab ihn mitgebracht, und ich bringe niemanden mit, der unnütz ist. Entweder helft ihr mir, ihn zu suchen, oder ich geh und lasse euch allein zusehen, wie ihr aus diesem Schlamassel herauskommt. Wenn wir ihn wiederfinden, werdet ihr mir noch dankbar sein, bevor wir dies alles hinter uns haben. Warum musstest du denn auch weiterlaufen, nachdem du ihn fallen gelassen hast, Dori?«
»Du hättest ihn auch fallen lassen«, sagte Dori, »wenn dich ein Ork plötzlich im Dunkel von hinten packt, dir ein Bein stellt oder dir in den Hintern tritt!«
»Warum hast du ihn dann nicht wieder aufgehoben?«
»Meine Güte, du kannst Fragen stellen! Wo doch die Orks überall im Dunkeln stachen und bissen, wo alles übereinander fällt und aufeinander eindrischt! Beinah hättest du mir mit Glamdring den Kopf abgesäbelt, und Thorin hat mit Orkrist in allen Richtungen herumgefuchtelt. Und ganz plötzlich lässt du einen von deinen Blendblitzen los, und wir sehn die Orks heulend davonrennen. Dann hast du gerufen, ›alle mir nach!‹, und alle hätten dir nachkommen müssen. Wir dachten, es seien alle. Zum Zählen war keine Zeit, wie du selbst weißt, bevor wir nicht durch die Wachen am unteren Tor gestürmt waren, und dann Hals über Kopf hier herunter. Und da sind wir nun – ohne den Meisterdieb, verhext und verhagelt!«
»Und da wäre auch der Meisterdieb!«, sagte Bilbo, streifte den Ring ab und trat zwischen sie.
Meine Güte, wie sie da hochfuhren! Sie schrien auf vor Überraschung und vor Freude. Gandalf war ebenso erstaunt wie alle andern, aber wahrscheinlich noch froher. Er rief Balin in deutlichen Worten zu, was er von einem Ausguckposten hielt, der jemanden so ohne Voranmeldung hereinließ. Tatsächlich stieg Bilbos Ansehen bei den Zwergen nach diesem Vorfall ganz beträchtlich. Hatten sie bisher noch, trotz Gandalfs Worten, bezweifelt, dass er ein echter Meisterdieb sei, so zweifelten sie nun nicht mehr. Am verblüfftesten war Balin; aber alle sagten, es sei eine schöne Probe von Bilbos Könnens gewesen.
Bilbo freute sich so über ihr Lob, dass er nur in sich hineingrinste und kein Wort von dem Ring sagte; und als sie ihn fragten, wie er das gemacht habe, sagte er: »Ach, ihr wisst ja, man muss eben schleichen – still und leise.«
»Na, so still und leise ist mir noch keine Maus unter der Nase vorbeigeschlichen, ohne dass ich sie bemerkt hätte«, sagte Balin, »und ich ziehe meine Kapuze vor dir.« Und er zog sie wirklich.
»Balin, zu Diensten!«, sagte er.
»Beutlin, zu Diensten!«, sagte Bilbo.
Dann wollten sie hören, wie es ihm ergangen war, nachdem sie ihn verloren hatten, und er setzte sich hin und erzählte ihnen alles – alles, nur nichts von dem Ring (»nicht gerade jetzt!«, dachte er). Besonders interessierte sie die Rätselwette, und als er ihnen Gollum schilderte, erschauerten sie verständnisvoll.
»Und dann fiel mir einfach keine andere Frage mehr ein, wie er so neben mir saß«, erzählte er schließlich; »und darum fragte ich ihn, was ich in meiner Tasche hätte. Und er konnt’s in drei Versuchen nicht erraten. Da hab ich gesagt: ›Was ist mit Ihrem Versprechen? Zeigen Sie mir den Weg zum Ausgang!‹ Aber er ist auf mich losgegangen und wollte mich umbringen. Ich bin weggerannt und fiel hin, und er ist im Dunkeln an mir vorbeigerannt. Dann bin ich ihm nachgeschlichen, weil ich gehört habe, wie er mit sich selbst redete. Er dachte, ich würde den Ausweg in Wirklichkeit doch kennen, und darum machte er, dass er dort hinkam. Und dann hat er sich in den Eingang gesetzt, und ich konnte nicht vorbei. Da bin ich über ihn weggesprungen und davongerannt, bis runter zum Tor.«
»Aber die Wachtposten?«, fragten sie. »Waren denn da keine?«
»Doch, haufenweise, aber um die bin ich herumgeflitzt. Dann bin ich im Tor stecken geblieben, weil es nur einen Spalt weit aufstand, und habe die meisten Knöpfe verloren«, sagte er und blickte bekümmert an seinen zerrissenen Kleidern herab. »Aber irgendwie hab ich mich durchgezwängt – und da wär ich nun!«
Die Zwerge betrachteten ihn mit einem ganz neuen Respekt, als er davon sprach, wie er um die Wachen herumgeflitzt, über Gollum weggesprungen war und sich durchs Tor gezwängt hatte, als ob das alles gar nicht so schwierig und aufregend wäre.
»Was hab ich euch gesagt?«, sagte Gandalf und lachte. »An Bilbo Beutlin ist mehr dran, als ihr ahnt.« Unter seinen buschigen Brauen sah er Bilbo bei diesen Worten nachdenklich an, und der Hobbit fragte sich, ob der Zauberer wohl erraten könne, was er bei dieser Geschichte ausgelassen hatte.
Dann stellte er seinerseits einige Fragen, denn er war nicht dabei gewesen, als Gandalf den Zwergen alles erklärte. Er wollte wissen, wie der Zauberer so plötzlich wieder aufgetaucht sei und wo sie alle sich nun befänden.
Der Zauberer, der, wie der Wahrheit zuliebe nicht verschwiegen werden darf, nie abgeneigt war, seine klugen Pläne zum wiederholten Male zu erklären, berichtete Bilbo nun, dass sowohl er als auch Elrond gewusst hatten, dass sie in diesem Teil des Gebirges mit den Orks rechnen müssten. Aber das Haupttor der Orkstollen mündete früher auf einen anderen Pass, der leichter zu begehen sei, so dass sie oft Leute gefangen genommen hätten, die in der Nähe des Tores von der Nacht überrascht wurden. Offenbar hatten die Reisenden diesen Weg daher bald nicht mehr benutzt, und die Orks mussten ein neues Tor ausgerechnet auf der Passhöhe eröffnet haben, die die Zwerge überschreiten wollten – und zwar erst in letzter Zeit, denn bisher hatte dieser Pass als einigermaßen sicher gegolten.
»Ich muss sehen, ob ich nicht einen halbwegs anständigen Riesen finde, der es wieder zuschüttet«, sagte Gandalf, »sonst kommt man bald überhaupt nicht mehr über die Berge.«
Gleich als er Bilbos Schrei hörte, hatte Gandalf begriffen, was los war. Während des Blitzschlags, der die Orks tötete, die ihn packen wollten, war er durch den Spalt in der Höhlenwand geschlüpft, kurz bevor er zuschnappte. Er folgte den Gefangenen und ihren Aufsehern bis zum Rand der großen Halle, und dort setzte er sich hin und zauberte, so gut es in dem Halbdunkel dort eben ging.
»Eine sehr riskante Geschichte«, sagte er. »Alles musste ganz schnell gehn!«
Aber Gandalf hatte natürlich jederlei Licht- und Feuerzauber gründlich studiert. (Sogar der Hobbit, wie ihr euch erinnern werdet, hatte die magischen Feuerwerke bei den Sonnenwendfesten des Alten Tuk nicht vergessen.) Den Rest kennen wir schon – abgesehen davon, dass Gandalf auch über die Hintertür Bescheid wusste, wie die Orks das tiefer gelegene Tor nannten, wo Bilbo seine Knöpfe eingebüßt hatte. Das Tor kannte eigentlich jeder, der mit diesem Teil des Gebirges vertraut war; aber um sich in den Stollen zurechtzufinden und die Richtung nicht zu verlieren, dazu musste man schon ein Zauberer sein.
»Sie haben dieses Tor schon vor langer Zeit angelegt«, sagte er, »teils als Fluchtweg für alle Fälle, teils als Zugang zu den Ländern jenseits der Berge, wo sie immer noch gern bei Nacht einfallen und viel Schaden anrichten. Es wird stets bewacht, und niemand hat es ihnen je versperren können. Nach dem, was heute passiert ist, werden sie die Wachen verdoppeln«, sagte er und lachte.
Die andern lachten auch. Schließlich hatten sie zwar viel verloren, aber sie hatten immerhin den Großork und etliche von seinen Leuten erschlagen und waren alle davongekommen; darum konnte man sagen, dass sie zur Heiterkeit allen Grund hatten.
Aber der Zauberer hatte Zweifel, ob sie nicht zu früh lachten. »Wir müssen gleich weiter, nachdem wir uns jetzt ein wenig ausgeruht haben«, sagte er. »Sie werden zu Hunderten hinter uns her sein, sobald es Nacht wird; und die Schatten werden schon länger. Sie können noch stundenlang, nachdem wir vorüber sind, unsere Fußspuren am Geruch erkennen. Wir müssen noch einige Meilen zurücklegen, bevor es dunkel ist. Wenn es schön bleibt, werden wir ein bisschen Mondschein haben, ein Glück! Der Mond stört sie zwar nicht sehr, aber uns wirft er etwas Licht auf den Weg.«