»Ach ja!«, sagte er, als der Hobbit noch einige Fragen stellte. »In den Orkstollen verliert man das Zeitgefühl. Heute ist Donnerstag, und als wir gefangen genommen wurden, war es Montagnacht oder Dienstagmorgen. Wir sind viele Meilen weit gelaufen, meistens bergab und geradewegs durchs Herz des Gebirges, und sind jetzt auf der andern Seite – eine schöne Abkürzung. Aber wir sind nicht da, wo der Pass uns hingeführt hätte; wir sind zu weit nach Norden geraten, und vor uns liegt ein unfreundliches Land. Und wir sind immer noch ziemlich hoch oben. Gehen wir weiter!«
»Aber ich hab einen entsetzlichen Hunger«, stöhnte Bilbo, dem plötzlich einfiel, dass er seit vorvorgestern Abend nichts mehr gegessen hatte. Stellt euch vor, wie einem Hobbit da zumute ist! Er hatte ein hohles, flaues Gefühl im Magen, jetzt, nachdem seine Aufregung sich gelegt hatte, und seine Beine waren ganz schlotterig.
»Da kann ich dir nicht helfen«, sagte Gandalf, »es sei denn, du wolltest zum Tor zurückgehen und die Orks schön bitten, dass sie dir dein Pony und dein Gepäck wiedergeben.«
»Nein, danke!«, sagte Bilbo.
»Dann bleibt uns nichts übrig, als die Gürtel enger zu schnallen und weiterzustapfen – oder wir werden selbst zu Abend gegessen, was noch um einiges schlimmer ist, als aufs Abendessen verzichten zu müssen.«
Während sie marschierten, suchte Bilbo am Wegrand nach etwas Essbarem, aber die Brombeeren standen erst in Blüte, und natürlich gab es auch keine Nüsse oder auch nur Hagebutten. Er knabberte ein bisschen Sauerampfer, trank aus einem kleinen Bergbach und aß drei wilde Erdbeeren, die er am Ufer fand. Satt wurde er nicht.
Sie liefen und liefen. Der holprige Pfad verschwand. Die Büsche und Spitzgräser zwischen den Felsblöcken, die von Kaninchen abgefressenen Rasenfleckchen mit Thymian, Salbei und Majoran und den gelben Ziströschen verschwanden ebenfalls, und sie standen am Rand eines breiten, steil abfallenden Hangs voller Felsgeröll, Überbleibsel eines Erdrutsches. Als sie sich an den Abstieg machten, rollten Kiesel und Splitter unter ihren Füßen weg, und bald polterten größere Steine hinterdrein und brachten andere Stücke unter ihnen ins Rutschen und Kullern; dann wackelten dicke Felsbrocken, lösten sich und krachten in einer Staubwolke bergab. Binnen kurzem schien der ganze Hang über und unter ihnen in Bewegung zu sein, und sie rutschten mit, dicht zusammengedrängt in einem wüsten Durcheinander ratternder, rummsender, knackender und knirschender Klötze und Brocken.
Die Bäume unten retteten sie. Sie rutschten in den Saum eines Kiefernwaldes hinein, der von den dichteren Wäldern der Täler den Berghang bis hier hinaufwuchs. Manche von ihnen hielten sich an den Stämmen fest und kletterten zwischen die unteren Äste, andere (wie der kleinwüchsige Hobbit) fanden hinter einem Baumstamm Schutz vor den nachrollenden Steinen. Bald war die Gefahr vorüber, der Steinschlag hatte aufgehört, und nur noch leise hörten sie, wie die größten der losgetretenen Brocken weiter unten durch Farne und über die Kiefernwurzeln polterten.
»Jedenfalls sind wir auf die Weise ein Stück vorangekommen«, sagte Gandalf, »und selbst den Orks, die uns verfolgen, wird es schwerfallen, hier ohne Lärm herunterzukommen.«
»Das kann man wohl sagen«, knurrte Bombur, »aber es wird ihnen nicht schwerfallen, uns Steine auf die Köpfe kullern zu lassen.« Den Zwergen (ebenso wie Bilbo) war gar nicht wohl in ihrer Haut; sie massierten sich die zerschrammten und gequetschten Beine und Füße.
»Unsinn! Wir biegen hier zur Seite ab und sind aus der Bahn des Steinschlags. Beeilt euch, es wird schon dunkel!«
Längst war die Sonne hinter den Bergen verschwunden. Schon wurden die Schatten um sie her dichter, obwohl durch die Bäume und über die dunklen Wipfel der tiefer gelegenen Wälder hinweg noch das Abendlicht auf den Ebenen zu sehen war. So schnell sie konnten, humpelten sie weiter, durch einen Kiefernwald, auf einem Pfad, der schräg zu den sanft abfallenden Hängen stetig nach Süden führte. Bald durchpflügten sie ein Meer von Farnkräutern, dessen hohe Wedel dem Hobbit bis über den Kopf reichten; bald schritten sie lautlos über einen Teppich von Kiefernnadeln; und während der ganzen Zeit wurde der Wald immer dämmeriger und stiller. Kein Windhauch regte an diesem Abend das Gezweig der Bäume, und sie hörten nicht das leiseste Rauschen.
»Müssen wir denn noch weiter?«, fragte Bilbo, als es so dunkel war, dass er gerade noch Thorins Bart neben sich herwackeln sah, und so still, dass ihm der Atem der Zwerge wie ein lautes Geräusch vorkam. »Meine Zehen sind wund und krumm, die Beine tun mir weh, und mein Magen schlottert wie ein leerer Sack.«
»Noch ein Stückchen«, sagte Gandalf.
Nach einem ewig langen Stückchen kamen sie plötzlich auf eine Fläche im Wald hinaus, wo keine Bäume standen. Der Mond war aufgegangen und schien auf die Lichtung herab. Irgendwie war es kein freundlicher Ort, fanden sie alle, obwohl nichts Bedenkliches zu sehen war.
Auf einmal hörten sie von weiter unten am Hang ein Heulen, ein schauriges, langgezogenes Heulen. Ein zweites antwortete rechts von ihnen und um einiges näher, dann ein drittes nicht weit zur Linken. Es waren Wölfe, die den Mond anheulten, Wölfe, die sich sammelten.
Bilbo kannte den Ton, obwohl es daheim um seine Höhle weit und breit keine Wölfe gab. Oft genug hatte er in Geschichten gehört, wie dieses Heulen klang. Einer seiner älteren Vettern (unter den Tuks), der weit gereist war, hatte es manchmal nachgeahmt, um ihm Angst zu machen. Es nun hier draußen im mondbeschienenen Wald zu hören, war zu viel für Bilbo. Gegen Wölfe nützen selbst Zauberringe nicht viel, schon gar nicht gegen die bösen Rudel im Schatten der Berge, wo es von Orks wimmelte, an den Grenzen der wilden, unbekannten Länder. Wölfe dieser Art haben noch bessere Nasen als die Orks und müssen ihre Opfer nicht erst sehen, um sie zu fassen.
»Was machen wir nur, was machen wir nur?«, rief Bilbo. »Den Orks entkommen, von den Wölfen geschnappt!«, sagte er, und daraus wurde ein Sprichwort, eines wie »vom Regen in die Traufe« oder »aus der Pfanne ins Feuer«, die wir für dergleichen unerfreuliche Veränderungen heute gebrauchen.
»Auf die Bäume, schnell!«, rief Gandalf, und sie rannten zu den Bäumen am Rande der Lichtung, suchten nach solchen, bei denen die untersten Äste tief genug ansetzten oder die schlank genug waren, dass man hinaufklettern konnte. Sie fanden welche, schneller als sie es je für möglich gehalten hätten, und stiegen so hoch hinauf, wie die Äste sie nur tragen konnten. Ihr hättet gelacht – aus sicherer Entfernung –, hättet ihr die Zwerge mit baumelnden Bärten oben auf den Bäumen sitzen sehen, wie durchgeknallte alte Herren, die sich als Lausbuben aufführen. Fili und Kili saßen in der Krone einer hohen Lärche, die wie ein riesiger Weihnachtsbaum aussah. Dori, Nori, Ori, Oin und Gloin hatten es bequemer auf einer großen Kiefer mit in regelmäßigen Abständen wie Radspeichen herausragenden Ästen. Bifur, Bofur, Bombur und Thorin saßen auf einer anderen Kiefer. Dwalin und Balin hatten sich eine schlanke Fichte mit nur wenigen Ästen hinaufgehangelt und versuchten nun in der grünen Spitze Sitzplätze zu finden. Gandalf, der um einiges größer war als die anderen, hatte einen Baum gefunden, auf den sie nicht klettern konnten, eine mächtige Kiefer dicht am Rande der Lichtung. Er saß gut versteckt zwischen ihren Zweigen, aber man konnte seine Augen im Mondlicht schimmern sehen, wenn er hervorlugte.
Und Bilbo? Er kam auf keinen Baum hinauf und hoppelte von einem Stamm zum andern wie ein Kaninchen, das sein Loch nicht findet und dem ein Hund auf den Fersen ist.