»Die Orks«, hatte Beorn gesagt, »werden es noch auf hundert Meilen weit nördlich des Carrock nicht wagen, den Großen Strom zu überschreiten, denn um mein Haus – es ist gut gesichert bei Nacht! – machen sie einen großen Bogen. Trotzdem solltet ihr nicht trödeln, denn wenn sie ihren Rachefeldzug bald beginnen, werden sie im Süden über den Fluss setzen und dann den ganzen Waldrand abkämmen, um euch den Weg abzuschneiden; und Warge können schneller rennen als Ponys. Jedenfalls seid ihr vor ihnen sicherer, wenn ihr nach Norden reitet, obwohl es so aussieht, als ob ihr dort ihren Festungen wieder näher kommt. Gerade dies werden sie am wenigsten erwarten, und sie werden einen weiteren Weg zurücklegen müssen, wenn sie euch erwischen wollen. Los nun, beeilt euch, so gut ihr könnt!«
Darum ritten sie nun schweigend dahin, fielen in Galopp, wo der Boden grasig und eben war, zur Linken das dunkle Gebirge und in einiger Entfernung voraus die Linie des Stroms mit seinen Uferwäldchen, die immer näher kamen. Die Sonne hatte sich eben erst nach Westen gewendet, als sie aufbrachen, und gegen Abend schien sie golden auf das Land ringsum. Es fiel schwer, jetzt daran zu denken, dass vielleicht die Orks hinter ihnen her waren, und als schon etliche Meilen zwischen ihnen und Beorns Haus lagen, begannen sie wieder zu plaudern und zu singen und den dunklen Waldweg zu vergessen, der vor ihnen lag. Aber abends, als es dämmerte und die Berggipfel den Sonnenuntergang verfinsterten, schlugen sie ein Lager auf und teilten Wachen ein, und die meisten von ihnen schliefen unruhig, von Träumen geplagt, in denen sie das Geheul jagender Wölfe und das Johlen der Orks hörten.
Doch der nächste Morgen wurde wieder hell und schön. Zuerst lag ein weißer Dunst, fast wie im Herbst, am Boden, und die Luft war kühl, aber bald stieg die Sonne rot im Osten auf, und die Dünste verschwanden. Die Schatten waren noch lang, als sie sich wieder auf den Weg machten. So ritten sie nun noch zwei Tage lang, und in der ganzen Zeit sahen sie nichts als Gras, Blumen, Vögel, vereinzelte Bäume und hier und da ein kleines Rudel Rotwild, äsend oder mittags im Schatten ruhend. Manchmal sah Bilbo die Geweihe der Hirsche aus dem hohen Gras ragen, und zuerst dachte er, es seien trockene Äste. An diesem dritten Abend hatten sie es so eilig, weil Beorn gesagt hatte, sie müssten den Waldweg früh im Laufe des vierten Tages erreichen, dass sie auch in der Dämmerung und bis in die Nacht hinein im Mondschein weiterritten. Als das Licht schwand, war es Bilbo, als sähe er bald rechts, bald links von ihnen schattenhaft einen großen Bären in die gleiche Richtung traben wie sie. Aber als er sich getraute, Gandalf etwas davon zu sagen, antwortete der Zauberer nur: »Pssst! Achte nicht drauf!«
Am nächsten Tag brachen sie schon im ersten Morgengrauen auf, obwohl die Nachtruhe sehr kurz gewesen war. Sobald es hell war, konnten sie den Wald sehen; er schien ihnen entgegenzukommen oder sie zu erwarten, eine schwarze, drohende Wand. Das Gelände stieg langsam an, und dem Hobbit war, als würden sie allmählich von einer drückenden Stille umfangen. Immer weniger Vögel sangen. Hirsche waren nicht mehr zu sehen, nicht mal Kaninchen. Am Nachmittag erreichten sie den Waldrand und rasteten dicht bei den außenstehenden Bäumen, fast schon im Schatten ihrer großen, überhängenden Zweige. Die Baumstämme waren dick und knorrig, die Äste wie verrenkte Gliedmaßen, die Blätter dunkel und lang. Efeu kletterte an ihnen empor und schleppte sich über den Boden.
»So, das ist der Düsterwald«, sagte Gandalf, »der größte unter den Wäldern der nördlichen Welt. Hoffentlich gefällt er euch, so wie er aussieht. Nun müsst ihr diese vortrefflichen Ponys zurückschicken, die ihr euch geliehen habt.«
Das hörten die Zwerge nicht so gern, und sie murrten, aber der Zauberer fragte sie, ob sie nicht bei Trost seien. »Beorn ist nicht so weit weg, wie ihr anscheinend glaubt, und ihr solltet euer Versprechen lieber halten, denn er ist ein sehr unangenehmer Feind. Bilbo Beutlin hat schärfere Augen als ihr, wenn ihr nicht jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit den großen Bären bemerkt habt, der neben uns hertrottet oder in einiger Entfernung im Mondschein sitzt und unser Lager beobachtet. Nicht nur, um euch zu behüten und zu führen, sondern auch, um ein Auge auf die Ponys zu haben. Beorn ist zwar euer Freund, aber seine Tiere liebt er, als wären es seine Kinder. Ihr ahnt ja nicht, was für einen Freundesdienst er euch damit erweist, dass er Zwerge so weit und so schnell auf ihnen reiten lässt, geschweige denn, was euch zustoßen würde, wenn ihr versuchtet, sie in den Wald mitzunehmen.«
»Und was ist mit dem Pferd?«, sagte Thorin. »Du sagst kein Wort davon, dass du es zurückschickst.«
»Ich sage es nicht, weil ich es nicht zurückschicke.«
»Und dein Versprechen?«
»Das lass nur meine Sorge sein! Ich schicke das Pferd nicht zurück, ich reite es zurück.«
Da begriffen sie, dass Gandalf sie ausgerechnet hier am Rande des Düsterwalds verlassen wollte, und waren verzweifelt. Aber durch nichts, was sie sagten, ließ er sich umstimmen.
»Wir haben das schon besprochen, als wir auf dem Carrock gelandet sind«, sagte er. »Unnütz, weiter zu streiten. Wie ich euch schon sagte, ich habe im Süden ganz dringend etwas zu erledigen; und ich bin schon spät dran, weil ihr mich so lange aufhaltet. Vielleicht sehen wir uns wieder, bevor alles vorbei ist, vielleicht auch nicht. Es kommt auf euer Glück an, auf euren Mut und Verstand; und ich schicke Bilbo Beutlin mit euch. Ich habe es euch schon gesagt: Es steckt mehr in ihm, als ihr ahnt; ihr werdet es noch früh genug merken. Also, Kopf hoch, Bilbo, und schau nicht so belemmert drein! Kopf hoch, Thorin & Co.! Dies ist doch eure Expedition. Denkt an den Schatz, den ihr am Ende gewinnen wollt, und vergesst erst mal den Wald und den Drachen, wenigstens bis morgen früh!«
Und als der Morgen heran war, sagte er immer noch dasselbe. Es half also nichts, sie mussten ihre Wasserschläuche an einer klaren Quelle füllen, die sie nah am Waldeingang fanden, und die Lasten der Ponys auf die eigenen Schultern nehmen. Sie verteilten das Gepäck so fair wie möglich, doch Bilbo fand sein Bündel unangenehm drückend, und die Vorstellung, all das Zeug Meile um Meile auf dem Buckel schleppen zu müssen, gefiel ihm gar nicht.
»Keine Sorge!«, sagte Thorin. »Es wird nur allzu schnell leichter werden. Ich nehme an, es dauert nicht lange, dann wünschen wir uns alle, wir hätten schwerer zu tragen – wenn nämlich die Verpflegung knapp wird.«
Endlich sagten sie ihren Ponys Lebwohl und drehten ihnen die Köpfe heimwärts. Munter trabten sie davon, offenbar heilfroh, dem Schatten des Düsterwalds die Schwänze zeigen zu können. Bilbo hätte schwören können, etwas wie einen Bären gesehen zu haben, der sich aus dem Schatten der Bäume löste und rasch hinter ihnen hertrottete.
Nun nahm auch Gandalf Abschied. Bilbo saß tief unglücklich auf dem Boden und wünschte sich zu dem Zauberer auf sein großes Pferd. Eben erst hatte er nach dem (sehr kärglichen) Frühstück in den Wald hineingeschaut und hatte es dort am helllichten Morgen so dunkel wie in der Nacht gefunden. Alles schien etwas zu verschweigen und zu verbergen: »Ein Gefühl, wie wenn man belauert und beobachtet würde«, sagte er sich.
»Auf Wiedersehn!«, sagte Gandalf zu Thorin. »Auf Wiedersehn, ihr alle, macht’s gut! Mitten durch den Wald geht euer Weg – kommt nur nicht von ihm ab! Sonst wette ich tausend gegen eins, dass ihr ihn nie wiederfindet und aus dem Wald nicht mehr herauskommt, und dann werdet ihr mich wohl nie wiedersehen und auch niemanden sonst.«