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Bilbo kniete am Ufer nieder und spähte hinüber. Er rief: »Ein Boot liegt am andern Ufer! Warum kann es nicht auf dieser Seite sein!«

»Was meinst du, wie weit es ist?«, fragte Thorin, denn inzwischen wussten sie, dass Bilbo die besten Augen hatte.

»Nicht sehr weit. Ich würde sagen, ein bisschen mehr als zehn Meter.«

»Zehn Meter! Ich hätte gedacht, es sind mindestens dreißig, aber ich sehe nicht mehr so gut wie vor hundert Jahren. Trotzdem, zehn Meter sind so viel wie eine Meile. Hinüberspringen können wir nicht, waten oder schwimmen dürfen wir nicht.«

»Kann einer von euch ein Seil hinüberwerfen?«

»Wozu? Das Boot ist sicherlich festgebunden, und selbst wenn wir es anhaken können, was ich bezweifle, was soll es nützen?«

»Ich glaube nicht, dass es festgebunden ist«, sagte Bilbo. »Mit Sicherheit kann ich es bei diesem Licht natürlich nicht sagen, aber es sieht mir so aus, als ob es nur aufs Ufer gezogen ist, und das ist flach an der Stelle, wo der Pfad im Wasser verschwindet.«

»Dori ist der Stärkste, aber Fili ist der Jüngste und hat noch die besten Augen«, sagte Thorin. »Komm her, Fili, und schau rüber! Siehst du das Boot, von dem Bilbo Beutlin redet?«

Fili glaubte es zu sehen, und nachdem er eine ganze Weile hinübergestarrt hatte, um sich eine Vorstellung von der Richtung zu machen, brachten die anderen ihm ein Seil. Davon hatten sie mehrere bei sich, und am Ende des längsten befestigten sie einen der großen Eisenhaken, die sonst dazu dienten, ihre Traglasten an die Schulterriemen zu hängen. Den nahm Fili, wog ihn einen Moment in der Hand und schleuderte ihn dann über den Bach.

Aufklatschend fiel er ins Wasser. »Nicht weit genug!«, sagte Bilbo, der hinüberspähte. »Zwei Fuß weiter, und du hättest ins Boot getroffen. Versuch’s noch mal! Ich denke, der Zauber wird nicht so stark sein, dass ein paar Tropfen von einem nassen Seil dir schaden können.«

Etwas zögernd nahm Fili den Haken, als er ihn ans Ufer gezogen hatte, wieder zur Hand. Dieses Mal warf er wuchtiger.

»Ruhig!«, sagte Bilbo. »Jetzt hast du ihn mitten in den Wald auf der andern Seite geworfen. Zieh ihn sachte heran!« Fili holte langsam das Seil ein, und nach einer Weile sagte Bilbo: »Achtung! Jetzt liegt es auf dem Boot – hoffentlich fasst der Haken.«

Er fasste. Das Seil straffte sich, und Fili zog vergebens. Kili kam ihm zu Hilfe, dann auch Oin und Gloin. Sie zogen aus Leibeskräften, und plötzlich fielen sie alle auf den Rücken. Aber Bilbo, der Ausschau hielt, packte das Seil und fing mit einem Stock das kleine schwarze Boot ab, als es über den Bach geschossen kam. »Hilfe!«, schrie er, und Balin kam gerade noch rechtzeitig, um das Boot festzuhalten, ehe es von der Strömung weggetragen wurde.

»Es war also doch festgebunden«, sagte er und betrachtete das abgerissene Stück Fangleine, das noch am Boot hing. »Das war ein Ruck, Jungs! Ein Glück, dass unser Seil stärker war.«

»Wer fährt zuerst hinüber?«, fragte Bilbo.

»Ich«, sagte Thorin, »und du mit mir, außerdem Fili und Balin. Mehr gehen nicht auf einmal hinein. Danach Kili mit Oin, Gloin und Dori; als nächste Ori und Nori, Bifur und Bofur; zuletzt Dwalin und Bombur.«

»Immer ich als Letzter, das passt mir gar nicht!«, sagte Bombur. »Kann das heute nicht mal jemand anders sein?«

»Was bist du auch so dick! Darum musst du in die letzte und leichteste Fuhre. Fang nicht an, gegen meine Befehle zu maulen, oder dir passiert etwas Unangenehmes.«

»Es sind keine Ruder im Boot. Wie sollen wir es ans andere Ufer bringen?«, fragte der Hobbit.

»Gebt mir noch ein Seil und einen Haken!«, sagte Fili, und als sie beides bereitgemacht hatten, warf er es so hoch er konnte in die Dunkelheit vor ihnen. Daran, dass es nicht wieder herunterfiel, sahen sie, dass es in den Zweigen hängengeblieben sein musste. »Steigt ein«, sagte Fili, »und einer von euch zieht das Boot an dem Seil hinüber. Ein anderer nimmt den Haken mit, den wir beim ersten Mal geworfen haben, und wenn wir drüben sind, macht er ihn fest, und ihr könnt das Boot zurückziehn.«

Auf diese Weise kamen sie alle bald wohlbehalten ans andere Ufer des verzauberten Flusses. Eben war Dwalin mit dem aufgerollten Seil im Arm aus dem Boot gestiegen, und Bombur (immer noch maulend) schickte sich an, ihm zu folgen, als etwas sehr Unangenehmes passierte. Auf dem Pfad vor ihnen trappelten Hufe. Aus der Dunkelheit tauchte die Gestalt eines fliehenden Hirschs auf. Er rannte in die Zwerge hinein und warf sie um, dann nahm er Anlauf zu einem Sprung. Hoch, mit einem mächtigen Satz, schnellte er sich über das Wasser. Aber das andere Ufer erreichte er nicht unbeschadet. Thorin, der als Einziger noch auf den Füßen stand, hatte einen klaren Kopf behalten. Sobald sie gelandet waren, hatte er seinen Bogen gespannt und einen Pfeil aufgelegt – für alle Fälle, denn es war möglich, dass das Boot bewacht wurde. Sein schnell abgeschossener Pfeil traf das Tier im Sprung. Als der Hirsch das andere Ufer erreichte, strauchelte er. Die Schatten verschluckten ihn, aber das Hufgeräusch wurde schnell matter, und dann war nichts mehr zu hören.

Für Loblieder auf den Schützen war keine Zeit. Ein gellender Aufschrei Bilbos verscheuchte alle Gedanken an frisches Wildbret. »Bombur ist reingefallen! Bombur ertrinkt!«, brüllte er. Es war nicht übertrieben. Bombur hatte erst einen Fuß an Land gesetzt, als der Hirsch auf ihn losraste und über ihn hinwegsprang. Er war gestolpert, hatte mit dem andern Fuß das Boot weggestoßen und war rücklings ins dunkle Wasser gefallen. Während seine Hände vergeblich an den schleimigen Wurzeln am Ufer Halt suchten, trieb das Boot langsam kreiselnd in die Dunkelheit davon.

Seine Kapuze sahen sie noch über Wasser, als sie herzugerannt kamen. Rasch warfen sie ein Seil mit Haken dorthin. Seine Hand packte zu, und sie zogen ihn an Land. Natürlich war er von Kopf bis Fuß durchnässt – nicht weiter schlimm. Aber als sie ihn am Ufer niederlegten, war er schon tief in Schlaf versunken. Mit einer Hand hielt er das Seil so fest umklammert, dass sie es nicht aus seinem Griff lösen konnten; und was sie auch mit ihm anstellten, er schlief unbeirrt weiter.

Sie standen noch bei ihm, verwünschten ihr Pech und Bomburs Tolpatschigkeit, jammerten über den Verlust des Bootes, der es unmöglich machte, noch einmal umzukehren und nach dem Hirsch zu suchen, als es ihnen plötzlich so vorkam, als hörten sie leisen Hörnerschall aus dem Wald und ein Geräusch wie von fernem Hundegebell. Sie wurden ganz still, setzten sich hin und horchten. Nördlich des Pfades schien eine große Jagd vorüberzuziehen. Zu sehen war nichts.

Lange blieben sie so sitzen und wagten nicht, sich zu rühren. Bombur schlief und schlief, mit einem Lächeln in seinem feisten Gesicht, als ob ihn alle ihre Sorgen nun nichts mehr angingen. Plötzlich erschienen auf dem Pfad vor ihnen mehrere weiße Hirsche, eine Kuh mit ihren Kälbchen, alle schneeweiß, während der Hirsch, der sie umgerannt hatte, braun gewesen war. Ihr Fell schimmerte durch das Halbdunkel. Bevor Thorin einen Befehl geben konnte, waren drei von den Zwergen aufgesprungen und schossen Pfeile ab. Keiner schien zu treffen. Die Hirsche machten kehrt und verschwanden so leise, wie sie gekommen waren, zwischen den Bäumen, und die Zwerge schossen vergeblich hinterher.

»Halt! Halt!«, brüllte Thorin, aber es war zu spät. In der Aufregung hatten die Zwerge ihre letzten Pfeile vergeudet, und die Bogen, die Beorn ihnen mitgegeben hatte, waren nun nutzlos.

An diesem Abend waren sie gedrückter Stimmung, die sich an den folgenden Tagen noch mehr verfinsterte. Den verzauberten Fluss hatten sie überschritten, aber der Weg schien sich ebenso endlos hinzuziehen wie zuvor, und im Wald zu beiden Seiten konnten sie keine Veränderung erkennen. Hätten sie den Wald besser gekannt und sich überlegt, was der Jagdlärm und die weißen Hirsche auf ihrem Weg zu bedeuten hatten, so hätten sie begriffen, dass sie sich endlich dem Ostrand näherten und, wenn Mut und Hoffnung sie nicht verließen, nun bald in lichtere Wälder und sogar an Stellen kämen, wo die Sonne wieder hereinschien.