»Na, bist du nun tot oder lebendig?«, fragte Bilbo etwas unwirsch. Er hatte wohl vergessen, dass er den Zwergen immerhin eine Mahlzeit voraus hatte und dass er Arme und Beine hatte bewegen können, um von dem Segen des freien Atmens gar nicht zu reden. »Sitzt du noch im Gefängnis, oder bist du frei? Wenn du bald etwas zu essen haben und dieses blödsinnige Abenteuer fortsetzen willst – es ist schließlich deines und nicht meins –, dann solltest du dir jetzt die Arme um den Leib schlagen und die Beine massieren und dann versuchen, mir zu helfen, dass wir die andern rausholen, solange noch Zeit ist.«
Natürlich sah Thorin das ein, und nachdem er noch ein bisschen gestöhnt hatte, stand er auf und half dem Hobbit, so gut er konnte. Im Dunkeln in dem kalten Wasser herumzuplantschen, um die richtigen Fässer herauszufinden, war eine unangenehme Plackerei. Durch Klopfen und Rufen fanden sie nur sechs der Zwerge, die noch imstande waren, zu antworten. Diese packten sie aus und halfen ihnen aufs Trockene, wo sie sich knurrend und stöhnend hinsetzten oder hinlegten; sie waren so verkrampft und zerschlagen, dass sie ihre Befreiung noch gar nicht recht begreifen oder sich gebührend dafür bedanken konnten.
Dwalin und Balin waren am übelsten dran; um ihre Hilfe brauchte man gar nicht erst zu bitten. Bifur und Bofur waren trockener und nicht so schlimm durchgeschüttelt worden, aber sie blieben einfach liegen und wollten keinen Finger rühren. Fili und Kili aber, die noch jung waren (jedenfalls für Zwerge) und die auch mit viel Stroh und in kleineren Fässern besser verpackt gewesen waren, kamen mehr oder weniger lächelnd heraus, nur mit ein paar Schrammen und mit steifen Gliedern, die sie nicht lange behinderten.
»Mein Lebtag werde ich Äpfel nicht mehr riechen können«, sagte Fili. »Mein Fass roch danach. Immerzu den Geruch von Äpfeln in der Nase zu haben, wenn du dich kaum rühren kannst und frierst und dir ganz schlecht ist vor Hunger, das ist zum Verrücktwerden! Ich könnte jetzt stundenlang pausenlos essen, alles in der Welt – aber bitte keinen Apfel!«
Mit Filis und Kilis bereitwilliger Hilfe fanden Thorin und Bilbo schließlich die noch Fehlenden und holten sie aus ihren Fässern heraus. Der arme dicke Bombur schlief oder war bewusstlos; Dori, Nori, Ori, Oin und Gloin waren halb ertrunken und wirkten mehr tot als lebendig; sie mussten einzeln an den Strand getragen werden und blieben hilflos liegen.
»Schön! Da wären wir ja alle!«, sagte Thorin. »Und ich meine, wir müssen unseren Sternen und Bilbo Beutlin danken. Er hat unseren Dank gewiss verdient, wenn ich mir auch wünschen würde, er hätte für einen etwas komfortableren Transport gesorgt. Trotzdem – wieder mal sehr zu deinen Diensten, Herr Bilbo Beutlin! Unser Dank wird sicherlich noch tiefer empfunden sein, wenn wir erst den Hunger gestillt und uns etwas erholt haben. Einstweilen, was machen wir nun?«
»Ich schlage vor, wir gehen in die Seestadt«, sagte Bilbo. »Was sonst?«
Nichts sonst, dies war natürlich das einzig Mögliche; darum ließen Thorin, Fili und Kili und der Hobbit die andern zurück und gingen am Strand entlang zu der großen Brücke. Am Brückenkopf waren Wachtposten, aber sie passten nicht sehr scharf auf, denn es war schon zu lange her, dass sie das letzte Mal wirklich etwas zu tun gehabt hatten. Mit den Waldelben waren die Seestädter gut Freund, abgesehen vom gelegentlichen Zank um die Flusszölle, und alle andern Völker wohnten ziemlich weit weg. Manche junge Leute in der Stadt äußerten unverblümt Zweifel an der Existenz eines Drachen im Berge und lachten die Graubärte und die alten Mütterchen aus, die behaupteten, sie hätten ihn in ihrer Jugend am Himmel fliegen sehn. So war es nicht weiter verwunderlich, dass die Brückenwächter in ihrer Hütte trinkend und Witze erzählend am Feuer saßen, ohne den Lärm beim Auspacken der Zwerge oder die Schritte ihrer vier Abgesandten gehört zu haben. Sie waren mächtig erstaunt, als Thorin Eichenschild zur Tür hereintrat.
»Wer sind Sie und was wollen Sie?«, riefen sie, sprangen auf und tasteten nach ihren Waffen.
»Ich bin Thorin Thrainthrorssohnssohn, König unter dem Berge«, sagte der Zwerg mit lauter Stimme, und trotz der zerrissenen Kleider und der dreckigen Kapuze sah er wirklich aus wie ein König. Das Gold glänzte an Hals und Gürtel, seine Augen waren dunkel und tief. »Ich bin zurückgekehrt. Ich möchte den Bürgermeister eurer Stadt sprechen.«
Es gab eine mächtige Aufregung. Die Einfältigsten rannten aus der Hütte, wie um nachzusehen, ob sich der Berg über Nacht gleich in Gold verwandelte und das Wasser des Sees sich schon gelb färbte. Der Hauptmann der Wache trat vor.
»Und wer sind diese Herren?«, fragte er und deutete auf Fili und Kili und Bilbo.
»Die Söhne der Tochter meines Vaters«, antwortete Thorin, »Fili und Kili von Durins Volk und Herr Bilbo Beutlin, der uns aus dem Westen hierher begleitet hat.«
»Wenn ihr in Frieden kommt, dann legt eure Waffen nieder!«, sagte der Hauptmann.
»Wir haben keine«, sagte Thorin, und das war nicht gelogen: Die Waldelben hatten ihnen sogar die Messer abgenommen, und natürlich auch sein großes Schwert Orkrist. Bilbo allerdings hatte noch sein kurzes Schwert, aber er trug es wie gewöhnlich verborgen und sagte nichts davon. »Wir brauchen keine Waffen, da wir zu unserem angestammten Besitz zurückkehren, wie von alters her prophezeit. Gegen so viele könnten wir auch gar nicht kämpfen. Bringt uns zum Bürgermeister!«
»Er ist bei einem Essen«, sagte der Hauptmann.
»Ein Grund mehr, uns schleunigst zu ihm zu bringen«, platzte Fili heraus, dem das Zeremoniell zu lange dauerte. »Wir haben eine lange Reise hinter uns, sind erschöpft und halb verhungert, und draußen liegen unsere kranken Gefährten. Sparen Sie sich Ihre Worte und machen Sie schnell, oder Sie bekommen von Ihrem Bürgermeister etwas zu hören!«
»Also kommen Sie mit!«, sagte der Hauptmann, und mit einer Eskorte von sechs Mann führte er sie über die Brücke durchs Stadttor und auf den Marktplatz. Dieser war eine große, runde, ruhige Wasserfläche, umgeben von hohen Pfeilern, auf denen die größeren Häuser standen, und von langen hölzernen Kais mit vielen Treppen und Leitern, die bis zum Wasserspiegel herabreichten. Aus einer großen Halle leuchtete helles Licht, und viele Stimmen drangen nach außen. Sie traten ein, standen blinzelnd im Licht vor vielen Leuten, die an langen Tischen saßen.
»Ich bin Thorin Thrainthrorssohnssohn, König unter dem Berge! Ich bin zurückgekehrt!«, rief Thorin mit Donnerstimme gleich von der Tür aus, bevor der Hauptmann ein Wort herausbekam.
Alle sprangen auf. Der Bürgermeister fuhr hoch aus seinem großen Sessel. Aber niemand war erstaunter als die Elben vom Floß, die am hinteren Ende der Halle saßen. Sie drängten sich durch zum Tisch des Bürgermeisters und riefen:
»Dies sind entflohene Gefangene unseres Königs, vagabundierende Zwerge – sie konnten keine glaubwürdige Auskunft über sich geben, sind im Wald herumgeschlichen und haben unsere Leute belästigt!«
»Ist das wahr?«, fragte der Bürgermeister. Tatsächlich hielt er das für viel wahrscheinlicher als die Wiederkehr des Königs unter dem Berge – wenn es so einen je gegeben haben sollte.