»Wahr ist, dass der Elbenkönig ein Wegelagerer ist, der uns aufgelauert und uns ohne Grund eingekerkert hat, als wir in unser Land zurückkehren wollten«, antwortete Thorin. »Doch weder Schloss noch Riegel werden unsere Heimkehr verhindern, die von alters her prophezeit ist. Und diese Stadt liegt nicht im Reich der Waldelben. Ich spreche mit dem Bürgermeister der Seestadt, nicht mit den Flößern des Elbenkönigs.«
Da zögerte der Bürgermeister und blickte in die Runde. Der Elbenkönig war sehr mächtig in dieser Gegend, und der Bürgermeister wollte ihn sich nicht zum Feind machen; außerdem hielt er nicht viel von alten Liedern, sondern dachte nur an Gold, Handelsbeziehungen, Zolltarife und Lieferfristen, und dieser Gewohnheit verdankte er seine Stellung. Doch viele dachten nicht so wie er, und bald regelte sich die Angelegenheit ohne sein Zutun. Die Nachricht von der Wiederkehr des Zwergenkönigs hatte sich von der Tür der großen Halle wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt verbreitet. Jubelrufe waren zu hören, in der Halle und von draußen. Die Kais dröhnten unter herbeirennenden Füßen. Manche begannen Strophen aus einem alten Lied von der Wiederkehr des Königs unter dem Berge zu singen; dass es Thrors Enkel war, der wiederkehrte, und nicht Thror selbst, störte sie überhaupt nicht. Andere stimmten ein, und das Lied schallte laut und hoch über den See.
So sangen sie, oder so ähnlich, nur dass das Lied noch viel länger war und außer von Harfen und Geigen auch noch von viel Geschrei begleitet wurde. Selbst die ältesten Großväter konnten sich nicht erinnern, die Stadt schon einmal in solchem Taumel gesehen zu haben. Sogar die Waldelben wurden nachdenklich und besorgt. Sie wussten nicht, wie Thorin hatte entkommen können, und glaubten allmählich, dass ihr König vielleicht einen schweren Fehler gemacht habe. Was den Bürgermeister anging, so begriff er, dass ihm zumindest für den Augenblick nichts anderes übrigblieb, als zum allgemeinen Jubel gute Miene zu machen und so zu tun, als glaube er, dass dieser Thorin das sei, was er zu sein behauptete. Also bot er ihm seinen eigenen großen Ratssessel an, und Fili und Kili bekamen Ehrenplätze an seiner Seite. Sogar für Bilbo fand sich ein Stuhl am Tisch der hohen Herren, und in dem allgemeinen Durcheinander fragte niemand nach einer Erklärung, was er mit der Sache zu tun habe – denn von einem Hobbit war in den Liedern ja nicht einmal anspielungsweise die Rede.
Mit Erstaunen und Begeisterung wurden auch die anderen Zwerge begrüßt, die man bald darauf in die Stadt brachte. Sie wurden verarztet, gepflegt, bewirtet, untergebracht und auf das liebenswürdigste zu ihrer vollen Zufriedenheit verwöhnt. Ein großes Haus wurde Thorin und seinen Gefährten überlassen; Boote und Ruderer standen ihnen zur Verfügung; und den ganzen Tag saßen Gruppen von Leuten vor ihrer Tür und sangen oder jubelten, sobald ein Zwerg auch nur die Nase aus dem Fenster steckte.
Unter den Liedern, die sie sangen, waren außer den alten auch einige ganz neue, die sehr zuversichtlich vom plötzlichen Tod des Drachen handelten und von den Bootsladungen kostbarer Geschenke, die den Fluss herab in die Seestadt kamen. Diese waren in der Hauptsache vom Bürgermeister selbst angeregt und gefielen den Zwergen nicht besonders, aber einstweilen waren sie mit allem zufrieden und wurden schnell wieder rund und stark. Schon nach einer Woche hatten sie sich leidlich erholt. Sie trugen neue Kleider von feinem Tuch in ihren persönlichen Farben, ihre Bärte waren wieder gekämmt und gepflegt, und sie gingen mit hocherhobenem Haupt durch die Stadt. Thorin, wie er ging und stand, machte den Eindruck, als hätte er sein Königreich schon zurückgewonnen und den Drachen Smaug in kleine Stücke zerhackt.
Wie er vorausgesagt hatte, wurden die Dankesgefühle der Zwerge gegen den Hobbit nun mit jedem Tag wärmer. Niemand stöhnte und schimpfte mehr. Sie tranken auf sein Wohl, klopften ihm auf die Schultern und machten viel Wesens um ihn. Bilbo jedoch war es egal; er war nicht besonders gut aufgelegt. Er hatte den Anblick des Berges nicht vergessen, der Gedanke an den Drachen ging ihm nicht aus dem Kopf, und außerdem hatte er eine schlimme Erkältung. Drei Tage lang nieste und hustete er und konnte nicht aus dem Haus gehn, und auch danach beschränkten sich seine Reden bei Banketten auf ein »Dabke vielbals«.
In der Zwischenzeit hatten die Elben ihre neue Fracht den Waldfluss wieder hinaufgeflößt, und im Palast ihres Königs herrschte große Aufregung. Ich habe nie erfahren, was mit dem Kellermeister und dem Wachhauptmann geschehen ist. Solange die Zwerge in der Seestadt blieben, sagten sie natürlich kein Wort darüber, welche Rolle die Fässer und die Schlüssel bei ihrer Flucht gespielt hatten, und Bilbo hütete sich, dort je unsichtbar zu werden. Trotzdem erriet der König wohl einiges über das hinaus, was er wusste, auch wenn er sich über Herrn Beutlin sicher nicht recht klar werden konnte. Jedenfalls wusste er nun, was die Zwerge vorhatten, oder glaubte es zu wissen, und sagte sich:
»Na schön, sehn wir mal! Kein Schatz kann durch den Düsterwald zurückgebracht werden, ohne dass ich ein Wort mitrede. Aber wahrscheinlich nehmen sie alle ein schlimmes Ende – geschieht ihnen recht!« Jedenfalls glaubte er nicht, dass die Zwerge einen Drachen wie Smaug bekämpfen oder gar töten könnten, sondern war ziemlich sicher, dass sie irgendeine Dieberei im Schilde führten – woran man sieht, dass er ein sehr klarsichtiger Elb war, klüger als die Menschen in der Stadt, auch wenn er, wie sich dann herausstellte, nicht in allem recht behielt. Er schickte Späher an die Ufer des Sees und nach Norden so weit zum Berg hin, wie sie sich getrauten, und wartete ab.
Nach zwei Wochen in der Stadt begann Thorin an den Aufbruch zu denken. Solange die Begeisterung noch anhielt, war Hilfe leichter zu gewinnen, als wenn sich bei einer Verzögerung alles erst abgekühlt hätte. Darum traf er sich mit dem Bürgermeister und seinen Ratsherren und sagte ihnen, dass er mit seinen Begleitern nun zum Berg weiterziehen müsse.
Da war der Bürgermeister zum ersten Mal überrascht und ein wenig erschrocken, und er fragte sich, ob Thorin womöglich wirklich ein Nachkomme der alten Könige sei. Er hatte nie geglaubt, dass die Zwerge sich tatsächlich an Smaug heranwagen würden, sondern hatte sie für Schwindler gehalten, die man früher oder später entlarven und aus der Stadt werfen könnte. Da hatte er sich geirrt. Natürlich war Thorin wirklich der Enkel des Königs unter dem Berge, und man kann nie wissen, was ein Zwerg nicht alles aufs Spiel zu setzen bereit ist, wenn es gilt, Rache zu nehmen oder seinen Besitz wiederzugewinnen.
Aber der Abschied fiel dem Bürgermeister nicht schwer. Die Bewirtung der Zwerge war kostspielig, und seit ihrer Ankunft herrschte eine ewige Festtagsstimmung, in der die Geschäfte zum Stillstand kamen. »Sollen sie nur hingehen und Smaug in die Quere kommen! Warten wir mal ab, welchen Empfang er ihnen bereitet!«, dachte er. Laut aber sagte er: »Gewiss doch, o Thorin Thrainthrorssohnssohn! Du musst zurückfordern, was dein ist. Die Stunde ist da, wie prophezeit. Jede Hilfe, die wir leisten können, soll dir zuteil werden, und wir vertrauen auf deine Dankbarkeit, wenn du dein Königreich wiedergewonnen hast.«
So brachen eines Tages, als der Herbst schon weit fortgeschritten war und kalte Winde das Laub von den Bäumen rissen, drei große Boote von der Seestadt auf, beladen mit Ruderern, Zwergen, Herrn Bilbo Beutlin und vielen Vorräten. Pferde und Ponys waren um den See herumgeschickt worden und sollten am verabredeten Landeplatz zu ihnen stoßen. Der Bürgermeister und seine Ratsherren verabschiedeten sie auf der großen Rathaustreppe, die bis zum See hinunterführte. Die weißen Ruder tauchten ins aufspritzende Wasser, und auf ging es, nordwärts den See hinauf zur letzten Etappe ihrer langen Reise. Als Einziger zutiefst unglücklich war Bilbo.