Bilbo blieb stehen. Dass er dann doch weiterging, war die mutigste Tat seines Lebens. All die stürmischen Ereignisse nachher waren nichts dagegen. Den entscheidenden Kampf focht er dort im Tunnel ganz allein aus, bevor er die Gefahr, die ihn erwartete, in ihrem ganzen Ausmaß erkannt hatte. Jedenfalls, nach kurzem Zögern ging er weiter, und nun stellt euch das Bild vor, wie er ans Ende des Tunnels kommt, eine Öffnung, etwa gleicher Art und Größe wie die Geheimtür oben. Der kleine Kopf des Hobbits lugt heraus. Vor ihm liegt der unterste Keller, das tiefste Verlies des alten Zwergenreichs an den Wurzeln des Berges. Es ist fast dunkel, so dass man nur ahnen kann, wie groß die Halle sein muss, aber auf der Seite, in die der Gang mündet, steigt vom Felsboden ein mächtiger Glutschein auf: Smaugs Feuer!
Da lag er, ein gewaltiger rotgoldener Drache in tiefem Schlaf. Ein Dröhnen kam aus seinem Maul und seinen Nüstern, und Rauchfäden stiegen auf, aber sein Feuer schwelte nur, wenn er schlief. Unter ihm, unter seinen Gliedmaßen und dem riesigen zusammengerollten Schwanz und überall ringsum, so weit der Boden zu übersehen war, lagen haufenweise ungezählte Kostbarkeiten, Gold, geschmiedet oder roh, Gemmen und Edelsteine und Silber, das in der Glut rötlich schimmerte.
Mit angelegten Flügeln, wie eine unermesslich große Fledermaus, lag Smaug ein wenig auf die Seite gedreht, so dass der Hobbit seine Unterseite und den langen, bleichen Bauch sehen konnte, der sich in den vielen Jahren auf diesem kostbaren Bett mit einer Kruste von Gemmen und Goldstücken bedeckt hatte. Hinter ihm, wo das trübe Licht bis zu den Wänden reichte, hingen Panzerhemden, Helme, Äxte, Schwerter und Speere, und davor standen in Reihen Krüge und Schalen voller unschätzbarer Reichtümer.
Zu sagen, dass der Anblick Bilbo den Atem nahm, wäre noch zu wenig. Es gibt keine Worte mehr für solches Erstaunen, seit Menschen der Sprache verlustig gingen, die sie einst von den Elben erlernten, als die Welt noch voller Wunder war. Bilbo hatte schon allerlei von Drachenhorten singen und sagen gehört, aber die Pracht und der Glanz eines solchen Schatzes und die Begierde, die er zu wecken vermochte, waren ihm nie so ganz aufgegangen. Nun war sein Herz durchdrungen und verzaubert von demselben Verlangen, das auch die Zwerge erfüllte, und er starrte regungslos, den furchtbaren Hüter fast vergessend, auf das aller Zählung spottende Gold.
Eine Ewigkeit, wie es ihm schien, stand er so da, bis er sich, fast gegen seinen Willen angezogen, aus dem Schatten des Eingangs löste und bis zum Rand des nächsten Schatzhaufens schlich. Nahezu über ihm lag der Drache, furchtbar noch im Schlaf. Mit einem ängstlichen Seitenblick aufwärts griff er nach einem großen zweihenkligen Pokal, so schwer, dass er ihn eben noch tragen konnte. Smaug zuckte mit einem Flügel, öffnete eine Klaue, und sein dröhnendes Schnarchen wechselte den Ton.
Da ergriff Bilbo die Flucht. Aber der Drache erwachte nicht – noch nicht –, sondern ging nur zu anderen Träumen von Begierden und Gewalttaten über. Er blieb liegen in seinem gestohlenen Palast, während der kleine Hobbit sich durch den langen Tunnel zurückschleppte. Sein Herz klopfte wild, und die Beine zitterten ihm noch fieberhafter als schon beim Abstieg, aber immer noch hielt er den Pokal in den Händen, und sein einziger Gedanke war: »Ich hab’s geschafft! Sollen sie mal sehen! ›Mehr wie ein Krämer als wie ein Meisterdieb‹ – von wegen! Solche Sprüche werden ihnen jetzt vergehen.«
Und so war es. Balin war überglücklich, den Hobbit wiederzusehen, und seine Überraschung war mindestens so groß wie seine Freude. Er hob Bilbo hoch und trug ihn ins Freie hinaus. Es war Mitternacht, und Wolken verdeckten den Sternenhimmel, aber Bilbo lag keuchend und mit geschlossenen Augen im Gras und schlürfte die frische Luft in sich hinein, fast ohne die Zwerge zu beachten, die ihm vor Begeisterung auf die Schultern klopften und sich mitsamt all ihren Nachkommen auf Generationen hinaus zu seinen ergebensten Dienern erklärten.
Immer noch ließen die Zwerge den Pokal von Hand zu Hand gehen und sprachen voll Entzücken von der Wiedergewinnung ihres Schatzes, als ein tiefes Grollen im Berg erwachte, wie wenn ein alter Vulkan sich entschlossen hätte, wieder einmal auszubrechen. Die Tür hinter ihnen stand dicht angelehnt, mit einem in den Spalt geklemmten Stein, der verhinderte, dass sie zufiel, aber durch den langen Gang hallte aus den Tiefen des Berges ein Brüllen und Stampfen herauf, das den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ.
Die Freude und die zuversichtlichen Prahlereien, in denen sie eben noch geschwelgt hatten, waren vergessen. Ängstlich zogen sie die Köpfe ein. Smaug war auch noch da. Ein lebendiger Drache in der näheren Umgebung kann die schönsten geschäftlichen Kalkulationen über den Haufen werfen. Drachen wissen zwar mit all ihrem Besitz nicht viel anzufangen, aber in der Regel kennen sie ihn auf Mark und Pfennig, besonders wenn sie schon lange darauf sitzen; und Smaug war keine Ausnahme. Er war aus einem unbehaglichen Traum (in dem ein Krieger, der Größe nach harmlos, aber sehr mutig und mit einem bissigen Schwert, eine sehr störende Rolle spielte) in den Halbschlaf übergegangen und aus dem Halbschlaf nun in einen hellwachen Zustand. Ein fremder Geruch war in seiner Höhle. Etwa ein Luftzug aus dem kleinen Loch da? So klein es auch war, er war nie ganz damit einverstanden gewesen, und nun glotzte er es argwöhnisch an und wunderte sich, dass er es nie zugeschüttet hatte. In letzter Zeit war ihm so gewesen, als hätte er ein undeutliches Echo von einem Klopfgeräusch gehört, das von irgendwo weit oben durch das Loch zu ihm herabkam. Er rührte sich und reckte den Hals, um zu schnüffeln. Dann vermisste er den Pokal.
Diebe! Mörder! Feurio! So etwas war ihm noch nicht passiert, seit er im Berg lag! Sein Zorn war unbeschreiblich – ein Zorn, wie man ihn nur bei reichen Leuten erleben kann, die mehr haben, als sie brauchen, und plötzlich etwas verlieren, das sie schon lange besitzen, aber noch nie benutzt oder benötigt haben. Er spie Feuer, bis die Halle voll Rauch war, er schüttelte den Berg an seinen Wurzeln. Vergebens stieß er mit dem Kopf gegen das kleine Loch in der Wand. Dann entrollte er sich zu seiner ganzen Länge und raste, brüllend wie unterirdischer Donner, fort aus seinem tiefen Nest, durch die große Tür in die breiten Gänge des Bergpalastes hinaus und aufwärts zum Vordertor.
Den ganzen Berg abzusuchen, bis er den Dieb erwischt, zerfetzt und in den Boden gestampft hätte, war sein einziger Gedanke. Er kam aus dem Tor, und das Wasser des Flusses stieg in einer schrill pfeifenden Dampfsäule auf. Glühend erhob er sich in die Luft und landete, grüne und scharlachrote Stichflammen werfend, auf dem Gipfel des Berges. Die Zwerge hörten das gewaltige Brausen seines Fluges und drückten sich an die Felswände um die kleine Grasterrasse, duckten sich unter Felsbrocken, in der Hoffnung, den furchtbaren Augen des jagenden Drachen irgendwie zu entgehen.
Dort hätte er sie alle erwischt, wenn Bilbo nicht gewesen wäre – wieder einmal! »Schnell, schnell!«, rief er keuchend. »Die Tür! In den Tunnel! Hier sind wir nicht sicher.«
Diesen Worten Folge leistend, wollten sie eben hineinschlüpfen, als Bifur aufschrie: »Meine Vettern, Bombur und Bofur – wir haben sie vergessen, sie sind unten im Tal!«
»Sie werden getötet, und unsere Ponys auch, und alle unsere Vorräte sind wir dann los!«, jammerten die anderen. »Wir können nichts tun.«
»Unsinn!«, sagte Thorin, sich seiner Würde erinnernd. »Wir dürfen sie nicht im Stich lassen. Bilbo Beutlin und Balin, ihr geht in den Tunnel, Kili und Fili auch – der Drache soll uns nicht alle kriegen! Aber ihr andern – wo sind die Seile? Macht schnell!«
Dies waren wohl die schlimmsten Augenblicke, die sie bis jetzt überstanden hatten. Smaugs Toben und Wüten hallte aus den hochgelegenen Felsmulden wider; jede Sekunde konnte er herabgestoßen kommen oder sie bei einer Runde um den Berg entdecken, während sie am Rand der steilen Klippe standen und wie verrückt an den Seilen zogen. Bofur kam oben an, und noch war alles ruhig. Dann kam Bombur, keuchend und schnaufend, und die Seile knirschten, aber immer noch war alles ruhig. Manche Werkzeuge und Bündel mit Vorräten kamen auch noch herauf. Und dann wurde es gefährlich.