In dieser Nacht fasste Bilbo seinen Entschluss. Der Himmel war schwarz und mondlos. Sobald es ganz dunkel war, ging er zu seinem Bündel, das in der Ecke einer Kammer dicht hinter dem Tor lag, und nahm ein Seil und den in einen Lappen eingewickelten Arkenstein heraus. Dann stieg er auf die Mauer. Nur Bombur war dort, der Wache hatte, denn die Zwerge ließen immer nur einen auf Posten.
»Mächtig kalt!«, sagte Bombur. »Ich wünschte, wir könnten auch ein Feuer machen wie die da unten im Lager.«
»Drinnen ist es schön warm«, sagte Bilbo.
»Das will ich glauben, aber ich muss noch bis Mitternacht hier aushalten«, maulte der dicke Zwerg. »Eine verfahrene Geschichte! Nicht, dass ich geradezu sagen möchte, ich bin mit Thorin – möge sein Bart immer länger wachsen – nicht einverstanden, aber er hatte schon immer einen sehr steifen Nacken.«
»Nicht so steif wie meine Beine«, sagte Bilbo. »Diese Treppen und Steinfußböden gehn mir auf die Nerven. Ich gäbe viel dafür, mal wieder Gras unter den Zehen zu spüren.«
»Und ich würde mir so gern mal wieder tüchtig die Kehle befeuchten und nach einem guten Abendessen in einem weichen Bett schlafen!«
»Damit kann ich dir nicht dienen, solange wir hier belagert werden. Aber ich hab schon lange keine Wache mehr gehabt, und wenn du willst, übernehme ich deine. Schlafen kann ich heute Nacht sowieso nicht.«
»Du bist doch ein lieber Kerl, Bilbo Beutlin! Das nehme ich dankbar an. Sollte irgendetwas los sein, weck mich bitte als Ersten, ja? Ich liege in der Kammer links, gleich hinterm Tor.«
»Geh schon!«, sagte Bilbo. »Ich wecke dich um Mitternacht, und du kannst dann den wecken, der dich ablöst.«
Sobald Bombur fort war, steckte Bilbo seinen Ring auf, befestigte das Seil an der Mauer, ließ sich hinab und machte sich davon. Er hatte etwa fünf Stunden Zeit. Bombur würde schlafen (er konnte zu jeder Zeit schlafen, und seit seinem Erlebnis im Düsterwald versuchte er immer wieder in die schönen Träume zurückzufinden, die er damals gehabt hatte); und alle andern waren mit Thorin an der Arbeit. Wahrscheinlich würde keiner von ihnen zur Mauer herauskommen, selbst Fili oder Kili nicht, solange sie nicht Wache hatten.
Es war sehr dunkel, und nachdem er das neu angelegte Stück verlassen hatte und zum unteren Flusslauf hinuntergeklettert war, kannte er den Weg nicht. Endlich kam er an die Biegung, wo er übers Wasser musste, wenn er zum Lager wollte. Das Flussbett war dort flach, aber schon sehr breit, und der Übergang im Dunkeln war nicht einfach für jemanden, der so klein war wie der Hobbit. Er war schon fast hinüber, als er auf einem runden Stein ausrutschte und mit einem lauten Platsch ins kalte Wasser fiel. Kaum war er zitternd und spuckend aufs andere Ufer gekrabbelt, als ein paar Elben mit Laternen aus der Dunkelheit auftauchten, auf der Suche nach der Ursache des Geräusches.
»Das war kein Fisch«, sagte einer. »Hier schleicht ein Späher herum. Verdeckt eure Laternen! Die nützen ihm mehr als uns. Womöglich ist es das unheimliche kleine Kerlchen, das ihr Diener sein soll.«
»Von wegen Diener!«, schnob Bilbo durch die Nase, und dann musste er laut niesen. Sofort sammelten sich die Elben an der Stelle, wo das Geräusch herkam.
»Macht doch mal ein bisschen Licht!«, sagte er. »Hier bin ich, wenn ihr mich sprechen wollt.« Er streifte den Ring ab und trat hinter einem Felsen vor.
Trotz ihrer Überraschung hatten sie ihn schnell im Griff. »Wer bist du? Bist du der Hobbit, der bei den Zwergen ist? Was machst du hier? Wie bist du an unseren Wachposten vorbeigekommen?«, fragten sie einer nach dem andern.
»Ich bin Bilbo Beutlin aus Beutelsend unter dem Bühl«, antwortete er, »Thorins Gefährte, wenn ihr’s wissen wollt. Euren König kenne ich gut vom Sehen, obwohl er sich wahrscheinlich nicht an mich erinnern kann. Aber Bard wird sich erinnern, und den möchte ich vor allem sprechen.«
»Soso!«, sagten die Elben. »Und in welcher Sache?«
»In meiner eigenen, ihr braven Elben! Aber wenn ihr aus dieser kalten, öden Gegend je wieder in eure Wälder zurückzukehren vorhabt«, antwortete er bibbernd, »dann bringt mich jetzt ganz schnell erst mal zu einem Feuer, wo ich meine Sachen trocknen kann, und dann lasst ihr mich bitte schleunigst bei euren Chefs vor. Ich habe nur ein oder zwei Stunden Zeit.«
Und so kam es, dass er etwa zwei Stunden, nachdem er sich aus dem Tor geschlichen hatte, an einem warmen Feuer vor einem großen Zelt saß, Bard und dem Elbenkönig gegenüber, die ihn neugierig musterten. Einen Hobbit in einer Elbenrüstung, teilweise eingehüllt in eine alte Decke, hatten sie noch nie gesehen.
»Also, wissen Sie«, sagte Bilbo im schönsten Geschäftston, »die ganze Affäre ist doch unmöglich! Ich persönlich hab das alles gründlich satt. Ich wünschte, ich wär wieder zu Hause im Westen, wo die Leute vernünftiger sind. Aber ich bin nun mal an der Sache beteiligt – zu einem Vierzehntel, genau gesagt, laut einem Brief, den ich glücklicherweise aufbewahrt habe.« Aus einer Tasche seiner alten Jacke, die er noch über dem Panzerhemd trug, zog er den zerknitterten und vielfach gefalteten Brief, den Thorin ihm im Mai unter die Uhr auf dem Kaminsims gelegt hatte.
»Ein Anteil an den Profiten, wohlgemerkt«, fuhr er fort. »Soviel ist mir klar. Persönlich bin ich nur zu gern bereit, alle Ihre Ansprüche genau in Rechnung zu stellen und das, was Ihnen zusteht, vom Gesamtbetrag zu subtrahieren, ehe ich meinen Anspruch geltend mache. Aber Sie kennen Thorin Eichenschild nicht so gut, wie ich ihn heute kenne. Ich kann Ihnen versichern, der ist imstande, auf seinem Goldhaufen sitzen zu bleiben und zu verhungern, während Sie hier draußen sitzen.«
»Na, soll er doch!«, sagte Bard. »Geschieht ihm recht, wenn er so dumm ist.«
»Könnte man meinen«, sagte Bilbo. »Ich verstehe, dass Sie es so sehn. Andererseits, der Winter steht vor der Tür. Es dauert nicht mehr lange, dann haben wir Schnee und was nicht noch alles – mit Versorgungsschwierigkeiten sogar für die Elben, würde ich meinen. Und es wird noch andere Probleme geben. Haben Sie noch nichts von Dain und dem Zwergenvolk aus den Eisenbergen gehört?«
»Natürlich haben wir von Dain gehört, schon seit langem; aber was hat er mit der Sache zu tun?«, fragte der König.
»Hab ich mir gedacht! Ich sehe, ich habe einen Informationsvorsprung. Ich kann Ihnen sagen, Dain befindet sich jetzt keine zwei Tagesmärsche von hier mit mindestens fünfhundert kampferprobten Zwergen, viele davon mit Erfahrung aus den grässlichen Kriegen mit den Orks, wie sicher bekannt ist. Wenn die ankommen, könnte es hier heiß hergehen.«
»Warum sagen Sie uns das? Wollen Sie Ihre Freunde verraten, oder wollen Sie uns drohen?«, fragte Bard finster.
»Mein lieber Bard!«, piepste Bilbo. »Nicht so hastig! So etwas von Misstrauen! Ich möchte allen Beteiligten nur Ärger ersparen. Und jetzt will ich ein Angebot machen.«
»Wir hören!«, sagten sie.
»Ihr könnt es sogar sehen«, sagte er. »Das hier!« Und er holte den Arkenstein hervor und warf den Lappen weg, in den er eingewickelt war.
Sogar der Elbenkönig, dessen Augen den Anblick von Herrlichkeiten und Wunderdingen gewohnt waren, stand auf vor Erstaunen. Auch Bard blickte sprachlos vor Verwunderung auf den Stein. Es war, als hinge vor ihnen eine mit Mondlicht gefüllte Kugel in einem feinen Netz aus den Strahlen eisig funkelnder Sterne.
»Dies ist Thrains Arkenstein«, sagte Bilbo, »das Herz des Berges, und er ist auch Thorins Herz. Er ist ihm mehr wert als ein Fluss voller Gold. Ich gebe ihn euch. Er wird euch die Verhandlungen leichter machen.« Nicht ohne ein Erschauern und nicht ohne ein schmerzliches Widerstreben reichte er Bard den Stein, der ihn wie erstarrt in der Hand hielt.
»Aber wie ist er in Ihren Besitz gekommen, dass Sie ihn hergeben können?«, zwang er sich schließlich zu fragen.