»Ach so!«, sagte der Hobbit verlegen. »Er gehört mir eigentlich nicht, aber, nun ja, ich bin bereit, dafür auf meinen ganzen Anteil zu verzichten. Mag sein, dass ich ein Dieb bin – oder jedenfalls sagen sie, ich bin einer: Meinerseits bin ich mir nie so vorgekommen –, aber ein ehrlicher Dieb, hoffe ich doch, mehr oder weniger. Jedenfalls, ich muss jetzt zurück, und dann sollen die Zwerge mit mir machen, was sie wollen. Ich hoffe, ihr könnt etwas damit anfangen.«
Der Elbenkönig sah Bilbo mit neuer Verwunderung an. »Bilbo Beutlin«, sagte er. »Sie sind würdiger, die Rüstung eines Elbenprinzen zu tragen, als manch einer, der stattlicher darin aussah. Ich frage mich nur, ob Thorin Eichenschild das auch so sehen wird. Ich kenne die Zwerge vielleicht doch besser, als du sie kennst. Ich rate Euch, bleibt bei uns, wo Ihr ein dreifach willkommener Ehrengast seid.«
»Vielen Dank, natürlich«, sagte Bilbo mit einer Verbeugung, »aber ich glaube, ich kann meine Freunde nicht so im Stich lassen, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben. Und ich habe auch versprochen, den alten Bombur um Mitternacht zu wecken. Ich muss nun wirklich gehn, und zwar schnell.«
Durch nichts, was sie sagten, ließ er sich zurückhalten; also gaben sie ihm eine Eskorte mit, und sowohl der König wie auch Bard ergingen sich in Ehrenbezeigungen, als sie ihn verabschiedeten. Als sie durchs Lager kamen, stand ein alter Mann in einem dunklen Mantel vor der Tür eines Zeltes auf, wo er gesessen hatte, und trat auf sie zu.
»Gute Arbeit, Bilbo Beutlin!«, sagte er und klopfte Bilbo auf den Rücken. »Ich hab doch schon immer gesagt, es steckt mehr in dir, als irgendwer ahnt!« Es war Gandalf.
Zum ersten Mal seit vielen Tagen war Bilbo wirklich froh. Doch für all die Fragen, die er gern sofort gestellt hätte, war keine Zeit.
»Warte ab!«, sagte Gandalf. »Alles kommt nun langsam zum Ende, oder ich müsste mich sehr irren. Du hast noch einiges Unangenehme durchzustehen, aber lass den Mut nicht sinken – vielleicht schaffst du es ja! Da braut sich einiges zusammen, wovon selbst die Raben noch nichts gehört haben. Gute Nacht!«
Verwirrt, aber mächtig aufgemuntert, eilte Bilbo weiter. Er wurde zu einer bequemen Furt geleitet und trockenen Fußes hinübergebracht; dann nahm er Abschied von den Elben und stieg vorsichtig wieder zum Tor hinauf. Er wurde sehr müde; aber es war noch eine ganze Weile bis Mitternacht, als er an dem Seil wieder hinaufkletterte – es hing immer noch da, wo er es gelassen hatte. Er band es los und versteckte es; dann setzte er sich auf die Mauer und überließ sich sorgenvollen Gedanken, was wohl als Nächstes passieren würde.
Um Mitternacht weckte er Bombur, und dann legte er sich seinerseits in seiner Schlafecke aufs Ohr, ohne die Danksagungen des alten Zwergs anzuhören (er fand, er hatte sie kaum verdient). Bald lag er in tiefem Schlaf und vergaß für den Rest der Nacht all seine Sorgen. Genau gesagt, er träumte von Rühreiern mit Speck.
XVII
Die Wolken bersten
Früh am nächsten Tag hörten sie Fanfarenstöße aus dem Lager. Bald kam ein Läufer den schmalen Weg herauf. In einiger Entfernung blieb er stehen und rief zu ihnen herüber: Ob Thorin bereit sei, eine neue Botschaft anzuhören? Nachrichten seien eingetroffen, welche die Lage veränderten.
»Das wird Dain sein«, sagte Thorin, als er es hörte. »Sie werden von seinem Anmarsch Wind bekommen haben. Hab ich mir doch gedacht, dass ihre Stimmung sich da ändern würde!« Und dem Boten rief er zu: »Sie sollen zu wenigen und ohne Waffen kommen, dann will ich sie anhören.«
Gegen Mittag wurden wieder die Banner des Waldes und der Seestadt herangetragen. Ein Trupp von zwanzig Mann näherte sich. Zu Beginn des schmalen Weges legten sie Schwert und Speer ab und kamen zum Tor. Verwundert sahen die Zwerge, dass sowohl Bard wie auch der Elbenkönig unter ihnen waren; und vor ihnen ging ein alter Mann, in Mantel und Kapuze gehüllt, der ein hölzernes, von starken Eisenbändern umschlossenes Kästchen trug.
»Sei gegrüßt, Thorin!«, sagte Bard. »Bist du noch immer derselben Meinung?«
»Meine Meinung ändert sich nicht alle paar Tage«, antwortete Thorin. »Bist du gekommen, um mir müßige Fragen zu stellen? Das Elbenheer ist noch immer nicht abgezogen, wie ich befohlen hatte. Bis das nicht geschehen ist, verhandle ich nicht mit dir.«
»Gibt es denn nichts, wofür du etwas von deinem Gold hergäbest?«
»Nichts, das du und deine Freunde zu bieten haben.«
»Auch nicht Thrains Arkenstein?«, sagte Bard, und im gleichen Augenblick öffnete der alte Mann das Kästchen und hielt das Juwel hoch. Hell und weiß sprang das Licht aus seiner Hand in den Tag.
Thorin war sprachlos vor Erstaunen und Verwirrung. Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort.
Schließlich brach Thorin das Schweigen; seine Stimme war heiser vor Wut. »Dieser Stein gehörte meinem Vater, und er ist mein«, sagte er. »Warum sollte ich um mein Eigentum feilschen?« Aber er konnte es noch immer nicht fassen und fügte hinzu: »Aber wie ist dies Erbstück meines Hauses in eure Hände gekommen – wenn es denn nötig ist, Dieben eine solche Frage zu stellen?«
»Wir sind keine Diebe«, antwortete Bard. »Wir werden dir zurückgeben, was dein ist, wenn du uns gibst, was uns zusteht.«
»Wie seid ihr dazu gekommen?«, brüllte Thorin in unbezähmbarer Wut.
»Ich habe es ihnen gegeben«, piepste Bilbo und lugte über die Mauer, inzwischen in Todesangst.
»Du! Du!«, rief Thorin, wandte sich zu ihm und packte ihn mit beiden Händen. »Du erbärmlicher Hobbit! Du zu kurz geratener – Dieb!«, brüllte er, weil ihm kein passendes Wort einfiel, und schüttelte den armen Bilbo wie ein armes Kaninchen.
»Bei Durins Bart, ich wollte, ich hätte Gandalf hier! Verflucht soll er sein, weil er dich empfohlen hat! Der Bart soll ihm ausfallen! Und was dich angeht, dich werf ich runter auf die Felsen!«, rief er und hob Bilbo hoch.
»Halt! Dein Wunsch wird erfüllt«, sagte eine Stimme. Der alte Mann mit dem Kästchen schlug Mantel und Kapuze beiseite. »Hier ist Gandalf! Und nicht zu früh, wie mir scheint. Wenn du mit meinem Meisterdieb auch nicht zufrieden bist, tu ihm bitte nichts! Lass ihn los und hör dir erst an, was er zu sagen hat!«
»Es scheint, ihr steckt alle unter einer Decke!«, sagte Thorin und stellte Bilbo auf die Mauer. »Nie wieder will ich mit einem Zauberer oder seinen Freunden etwas zu schaffen haben. Was hast du zu sagen, du Rattensohn?«
»Meine Güte!«, sagte Bilbo. »Klar, das ist alles sehr unangenehm. Erinnerst du dich vielleicht daran, dass du gesagt hast, ich könnte mir mein Vierzehntel auswählen? Vielleicht habe ich das zu wörtlich genommen – ich habe gehört, dass Zwerge manchmal in Worten höflicher sind als in Taten. Trotzdem, das war zu einer Zeit, als du zu denken schienst, dass ich mich nützlich gemacht hatte. Und nun bin ich ein Rattensohn, soso! Sind das die Dienste, die du mir mehrfach verheißen hast, Thorin, mitsamt deiner ganzen Familie? Nimm an, dass ich über meinen Anteil verfügt habe, so wie ich es für richtig halte, und lass es dabei bewenden!«
»Das werde ich«, sagte Thorin finster. »Und mit dir lass ich es auch dabei bewenden – und hoffe dich nie wiederzusehn.« Dann drehte er sich um und sprach über die Mauer hinweg. »Man hat mich verraten«, sagte er. »Die Annahme war richtig: Ich kann nicht umhin, den Arkenstein auszulösen, den Schatz meines Hauses. Dafür gebe ich den vierzehnten Teil des Schatzes in Silber und Gold, abgesehen von den Edelsteinen; und das soll als der versprochene Anteil dieses Verräters gelten. Mit diesem Lohn soll er verschwinden, und ihr könnt unter euch teilen, wie ihr wollt. Ich bin mir sicher, viel wird für ihn nicht übrig bleiben. Nehmt ihn denn, wenn ihr ihn lebend haben wollt! Keine Freundschaft verbindet mich mehr mit ihm.
Los, mach, dass du zu deinen Freunden kommst«, sagte er zu Bilbo, »oder ich werfe dich runter!«
»Was ist mit dem Gold und Silber?«, fragte Bilbo.
»Das kommt nach, sobald es sich machen lässt«, sagte er. »Runter jetzt!«