All dies sah Bilbo mit Grauen. Er hatte bei den Elben auf dem Rabenberg Stellung bezogen, teils weil von dort aus leichter zu entkommen war, teils (mit dem tukschen Teil seines Herzens) weil er, wenn er denn schon an einem verzweifelten letzten Gefecht teilnehmen müsste, dann doch lieber den Elbenkönig verteidigen wollte. Auch Gandalf war dort, und von ihm kann ich nur sagen, dass er auf dem Boden saß, tief in Gedanken versunken, vermutlich in Vorbereitung irgendeines letzten magischen Blitz- und Donnerschlags, ehe das Ende kam.
Das schien nicht fern zu sein. »Lange kann es jetzt nicht mehr dauern«, dachte Bilbo, »dann nehmen die Orks das Tor ein, und wir werden alle abgeschlachtet, hinuntergejagt oder gefangen genommen. Man könnte heulen, nach all dem, was wir durchgemacht haben! Lieber wollte ich, der alte Smaug wäre auf dem ganzen verfluchten Schatz sitzen geblieben, als dass diese widerlichen Kreaturen ihn in die Finger kriegen! Der arme alte Bombur, Balin, Fili und Kili und all die andern werden ein schlimmes Ende nehmen, ebenso Bard und die Seestädter und die fröhlichen Elben. Was für ein Jammer! In Liedern hab ich schon von vielen Schlachten gehört, und da hieß es immer, dass auch die Niederlage ruhmreich sein kann. Aber jetzt kommt es mir so vor, als ob sie bloß sehr ärgerlich ist, um nicht zu sagen traurig. Wenn ich doch bloß aus alledem heil herauskäme!«
Der Wind riss die Wolken auf, und die untergehende Sonne stach von Westen grell herein. Das unerwartete Licht in der Düsternis ließ Bilbo umherblicken. Er stieß einen lauten Schrei aus. Er hatte etwas gesehen, das ihm das Herz höher schlagen ließ: dunkle Silhouetten, klein, doch majestätisch gegen das Licht vom fernen Horizont.
»Die Adler! Die Adler!«, rief er. »Die Adler kommen!«
Bilbos Augen trogen ihn selten. Die Adler kamen mit dem Wind, Reihe um Reihe, ein Heer, zu dem alle Horste des Nordens sich gesammelt haben mussten.
»Die Adler! Die Adler!«, rief Bilbo immer wieder, hüpfte auf und nieder und winkte mit beiden Armen. Die Elben konnten ihn zwar nicht sehen, aber sie hörten ihn. Bald nahmen sie den Ruf auf, dass er durchs ganze Tal hallte. Viele Augen blickten erstaunt zum Himmel, aber bis jetzt war außer von den südlichen Schultern des Berges aus noch nichts zu sehen.
»Die Adler!«, rief Bilbo noch einmal, aber im gleichen Augenblick schlug ihm ein von oben herabgeworfener Stein schwer auf den Helm. Er hörte es noch krachen, dann fiel er um und wusste von nichts mehr.
XVIII
Der Rückweg
Als er wieder zu sich kam, war er buchstäblich ganz bei sich, denn niemand anders war in der Nähe. Er lag auf den flachen Steinen des Rabenbergs. Bilbo zitterte und war so kalt wie die Steine, aber sein Kopf glühte.
»Jetzt möchte ich doch mal wissen, was passiert ist«, sagte er sich. »Jedenfalls gehöre ich noch nicht zu den gefallenen Helden. Aber vermutlich kann sich auch das schnell genug ändern.«
Mühsam setzte er sich auf. Unten im Tal sah er nichts von lebenden Orks. Als ihm nach einer Weile etwas klarer im Kopf war, glaubte er, unten zwischen den Felsen Elben herumlaufen zu sehen. Er rieb sich die Augen. Sicher, da war in einiger Entfernung immer noch ein Lager in der Ebene, und was war da für ein Kommen und Gehen um das Bergtor? Anscheinend Zwerge, die die Mauer wegräumten. Aber alles war totenstill. Kein Ruf, kein Widerhall eines Liedes. Kummer schien in der Luft zu liegen.
»Also war’s wohl doch ein Sieg«, sagte er und betastete seinen schmerzenden Kopf. »Na, dafür kommt mir alles sehr trübsinnig vor.« Plötzlich bemerkte er einen Menschen, der den Hang herauf und auf ihn zu kam.
»Hallo, Sie!«, rief er mit zittriger Stimme. »Hallo, Sie, was gibt’s Neues?«
»Wer spricht da zwischen den Steinen?«, sagte der Mann, blieb stehen und blickte sich um, nicht weit von der Stelle, wo Bilbo saß.
Da fiel Bilbo ein, dass er den Ring aufgesteckt hatte. »Verflucht«, sagte er sich, »Unsichtbarkeit hat auch ihre Nachteile! Wahrscheinlich hätte ich die Nacht sonst in einem warmen Bett schlafen können.«
»Ich bin’s, Bilbo Beutlin, Thorins Gefährte!«, rief er und streifte schleunigst den Ring ab.
»Ein Glück, dass ich Sie gefunden habe!«, sagte der Mann und kam näher. »Sie werden vermisst, und wir suchen schon lange nach Ihnen. Wir hätten Sie zu den Toten gezählt, von denen es viele gibt, wenn der Zauberer Gandalf nicht gesagt hätte, dass Ihre Stimme zuletzt an dieser Stelle gehört wurde. Ich wurde heraufgeschickt, um zum letzten Mal nachzusehen. Sind Sie schwer verletzt?«
»Ich glaube, ich habe mächtig eins auf den Kopf gekriegt«, sagte Bilbo. »Aber ich habe einen Helm auf und einen harten Schädel. Trotzdem, mir ist übel, und meine Beine sind wie Strohhalme.«
»Ich trage Sie zum Lager ins Tal hinunter«, sagte der Mann und hob ihn ohne viel Mühe hoch.
Der Mann ging schnell und trittsicher, und nicht lange, dann setzte er Bilbo vor einem Zelt im Tal ab. Dort stand Gandalf, einen Arm in einer Binde. Sogar der Zauberer war nicht mit heiler Haut davongekommen, und nur wenige in allen Heeren waren ganz unverletzt geblieben.
Gandalf war erleichtert, als er Bilbo sah. »Beutlin!«, rief er aus. »Na also! Doch noch am Leben – bin ich froh! Mir kamen schon Zweifel, ob dein Glück dich diesmal nicht im Stich gelassen hat. Eine furchtbare Geschichte, und beinah wäre alles schiefgegangen. Aber was es noch zu erzählen gibt, kann warten. Komm«, sagte er in ernsterem Ton, »du wirst erwartet.« Und er ging dem Hobbit voraus ins Zelt hinein.
»Grüß dich, Thorin!«, sagte er. »Hier ist er.«
Und wahrhaftig, da lag Thorin Eichenschild mit vielen Wunden, neben ihm auf dem Boden seine zerhauene Rüstung und die schartige Axt. Er blickte auf, als Bilbo an seine Seite trat.
»Lebe wohl, Meisterdieb!«, sagte er. »Ich gehe nun in die Hallen der Erwartung, um dort bei meinen Vätern zu sitzen, bis die Welt neu erschaffen wird. Weil ich nun alles Gold und Silber zurücklassen muss, denn da, wo ich nun hingehe, ist es nicht viel wert, möchte ich in Freundschaft von dir scheiden und zurücknehmen, was ich am Tor gesagt und getan habe.«
Traurig ließ sich Bilbo auf ein Knie nieder. »Lebe wohl, König unter dem Berge!«, sagte er. »Dies ist ein bitteres Abenteuer, wenn es so enden muss; und ein Berg von Gold kann es nicht gutmachen. Doch bin ich froh, dass ich mit dir durch die Gefahren gehen durfte – das ist mehr, als einem Beutlin zukommt.«
»Nein«, sagte Thorin, »in dir steckt mehr Gutes, als du weißt, du Kind des freundlichen Westens. Ein bisschen Mut und ein bisschen Klugheit in gut abgewogener Mischung. Gäbe es solche nur mehr, die ein gutes Essen, einen Scherz und ein Lied höher achten als gehortetes Gold, so wäre die Welt glücklicher. Doch ob traurig oder glücklich, ich muss sie nun verlassen. Lebe wohl!«
Da wandte Bilbo sich ab und ging aus dem Zelt. Sobald er allein war, setzte er sich hin, nahm eine Decke um, und, ob ihr es glaubt oder nicht, er weinte, bis er rote Augen und eine heisere Stimme bekam: Er hatte ein gutes, freundliches Hobbitherz. Es dauerte lange, bis er wieder zu Späßen aufgelegt war. »Ein Glück nur«, sagte er sich schließlich, »dass ich rechtzeitig aufgewacht bin. Ich wollte, Thorin bliebe am Leben, aber ich bin auch froh, dass wir uns in Freundschaft getrennt haben. Du bist ein Trottel, Bilbo Beutlin, und hast mit dem Arkenstein einen großen Schlamassel angerichtet. So sehr du dich auch bemüht hast, Ruhe und Frieden zu erkaufen, es ist doch zur Schlacht gekommen; aber ich glaube, daran kann dir kaum einer die Schuld geben.«