Nina Alexandrowna befand sich im Salon nicht allein; bei ihr saß Warwara Ardalionowna; beide waren mit Stricken beschäftigt und im Gespräch mit einem Gast, Iwan Petrowitsch Ptizyn, begriffen. Nina Alexandrowna mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; sie hatte ein mageres, eingefallenes Gesicht und dunkle, schwarze Stellen unter den Augen. Ihr Aussehen war kränklich und etwas vergrämt; aber ihre Miene und ihr Blick machten doch einen ziemlich angenehmen Eindruck; gleich aus ihren ersten Worten konnte ein jeder auf ihren ernsten, echt würdevollen Charakter schließen. Trotz ihres traurigen Gesichtsausdrucks merkte man, daß es ihr an Festigkeit und Entschlossenheit nicht mangelte. Ihre Kleidung war sehr bescheiden, von dunkler Farbe und ganz von der Art, wie sie alle Frauen tragen; aber ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise und ihre gesamten Manieren bekundeten eine Frau, die sich ehemals in der besten Gesellschaft bewegt hatte.
Warwara Ardalionowna war ein Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren, von mittlerer Statur, ziemlich mager, mit einem Gesicht, das, ohne übermäßig hübsch zu sein, doch die geheime Kunst besaß, auch ohne Schönheit zu gefallen und eine starke Anziehungskraft auszuüben. Der Blick ihrer grauen Augen konnte zeitweilig recht heiter und freundlich sein, war aber doch meist ernst und nachdenklich, manchmal sogar zu sehr, besonders in letzter Zeit. Festigkeit und Entschlossenheit waren auch in ihrem Gesicht ausgeprägt; man hatte aber die Empfindung, daß diese Festigkeit bei ihr mit noch größerer Energie und Tatkraft gepaart war als bei der Mutter. Warwara Ardalionowna war recht aufbrausend, und ihr Bruder fürchtete sich sogar mitunter vor den Ausbrüchen ihres hitzigen Temperaments. Diese Furcht teilte auch der Gast, der augenblicklich bei den Damen saß, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Dieser war ein noch ziemlich junger Mann, nämlich gegen dreißig Jahre alt, in bescheidener, aber anständiger Kleidung, von angenehmem, aber gewissermaßen allzu ehrbarem Wesen. Sein dunkelblondes Bärtchen ließ erkennen, daß er keine dienstliche Stellung einnahm. Er wußte beim Gespräch verständig und hübsch zu reden, verhielt sich aber meist schweigsam. Im ganzen genommen machte er einen recht angenehmen Eindruck. Er war Warwara Ardalionowna gegenüber augenscheinlich nicht unempfindlich und verbarg seine Gefühle nicht. Warwara Ardalionowna behandelte ihn freundschaftlich, zögerte aber noch, auf manche seiner Fragen zu antworten; ja, sie liebte solche Fragen nicht einmal; Ptizyn ließ sich übrigens dadurch in keiner Weise entmutigen. Nina Alexandrowna war gegen ihn freundlich und hatte in der letzten Zeit sogar angefangen, ihm viel Vertrauen zu schenken. Es war übrigens bekannt, daß er sich speziell damit beschäftigte, Geld auf mehr oder weniger sichere Pfänder zu hohen Prozenten auszuleihen. Mit Ganja war er sehr befreundet.
Ganja, der seine Mutter in sehr trockener Manier und seine Schwester gar nicht begrüßt hatte, stellte den Fürsten umständlich, aber in stockender Rede vor und führte dann sogleich Ptizyn mit sich aus dem Zimmer. Nina Alexandrowna sagte dem Fürsten ein paar freundliche Worte und gab ihrem Sohn Kolja, der durch die Tür hereinschaute, die Weisung, ihn in das mittlere Zimmer zu führen. Kolja war ein Knabe mit einem fröhlichen, recht netten Gesicht und zutraulichem, natürlichem Benehmen.
»Wo ist denn Ihr Gepäck?« fragte er, als er den Fürsten in das Zimmer führte.
»Ich habe nur ein Bündelchen; das habe ich im Vorzimmer gelassen.«
»Ich werde es Ihnen sofort holen. Unsere ganze Dienerschaft besteht aus der Köchin und Matrona, so daß auch ich mithelfen muß. Warja2 beaufsichtigt alles und ärgert sich viel über uns. Ganja sagt, Sie seien heute aus der Schweiz angekommen?«
»Ja.«
»Ist es in der Schweiz schön?«
»Ja, sehr schön.«
»Sind da Berge?«
»Ja.«
»Ich will Ihnen gleich Ihre Bündel holen.«
Warwara Ardalionowna trat ins Zimmer.
»Matrona wird Ihnen sofort das Bett überziehen. Haben Sie einen Koffer?«
»Nein, nur ein Bündelchen. Ihr Bruder ist es eben holen gegangen; es ist im Vorzimmer.«
»Es sind keine Bündel da außer diesem kleinen; wo haben Sie sie denn hingelegt?« fragte Kolja, der wieder ins Zimmer zurückkehrte.
»Außer diesem habe ich überhaupt keins«, erwiderte der Fürst, indem er sein Bündelchen in Empfang nahm.
»So, so! Und ich dachte schon, Ferdyschtschenko hätte es vielleicht weggenommen.«
»Schwatz keinen Unsinn!« sagte Warwara in strengem Ton. Auch dem Fürsten gegenüber bediente sie sich einer trockenen, nur soeben noch höflichen Redeweise.
»Chère Babette, mit mir könntest du etwas freundlicher umgehen; ich bin ja nicht Ptizyn.«
»Dich kann man noch durchhauen, Kolja, so dumm bist du noch. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, können Sie sich an Matrona wenden; das Mittagessen findet um halb fünf statt. Sie können mit uns zusammen speisen oder auch auf Ihrem Zimmer, wie es Ihnen beliebt. Komm mit, Kolja, störe den Herrn nicht!«
»Nun, dann wollen wir gehen, du resolute Person!«
Beim Hinausgehen stießen sie mit Ganja zusammen.
»Ist der Vater zu Hause?« fragte Ganja seinen Bruder, und auf Koljas bejahende Antwort flüsterte er ihm etwas ins Ohr.
Kolja nickte mit dem Kopf und ging hinter Warwara Ardalionowna hinaus.
»Nur zwei Worte, Fürst! Ich habe über all diesen ... Geschäften ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Eine kleine Bitte: wenn es Sie nicht zu große Anstrengung kostet, so plaudern Sie weder hier von dem, was soeben zwischen mir und Aglaja vorgefallen ist, noch dort von dem, was Sie hier vorfinden werden; denn auch hier gibt es genug Widerwärtiges. Hol das alles der Teufel! ... Halten Sie wenigstens heute damit zurück!«
»Ich versichere Ihnen, daß ich weit weniger geplaudert habe, als Sie glauben«, versetzte der Fürst, etwas gereizt durch Ganjas Vorwürfe.
Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich offenbar immer schlechter und schlechter.
»Na, ich habe durch Ihre Schuld heute schon genug auszustehen gehabt. Mit einem Wort, ich bitte Sie darum.«
»Wollen Sie noch dies bedenken, Gawrila Ardalionowitsch: Wodurch war ich denn vorhin verpflichtet, von dem Bild zu schweigen, und warum durfte ich nicht davon reden? Sie hatten mich ja nicht um Verschwiegenheit ersucht.«
»Pfui, was für ein häßliches Zimmer!« bemerkte Ganja, indem er verächtlich um sich schaute. »So dunkel, und die Fenster gehen auf den Hof! Sie haben es in jeder Hinsicht bei uns schlecht getroffen ... Na, das ist nicht meine Sache; das Zimmervermieten ist nicht mein Ressort.«
Ptizyn blickte herein und rief Ganja ab; dieser verließ den Fürsten eilig und ging hinaus, trotzdem er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen; aber er hatte damit gezaudert und sich gewissermaßen geschämt, davon anzufangen. Auch das Schimpfen über das Zimmer hatte seinen Grund nur in Ganjas Verlegenheit gehabt.