»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, versetzte der General verwundert. »Gestatten Sie die Frage: wo sind Sie abgestiegen?«
»Ich bin noch nirgends abgestiegen.«
»Also sind Sie geradewegs von der Bahn zu mir gekommen? Und ... mit dem Gepäck?«
»Als ganzes Gepäck habe ich ein einziges kleines Bündelchen mit Wäsche bei mir, weiter nichts; das trage ich gewöhnlich in der Hand. Ich werde am Abend noch Zeit haben, mir ein Zimmer zu nehmen.«
»Also beabsichtigen Sie auch jetzt noch, in einen Gasthof zu gehen?«
»Ja, gewiß.«
»Nach Ihren Worten hatte ich beinah geglaubt, daß Sie einfach bei mir Quartier nehmen wollten.«
»Das wäre doch nur möglich, wenn Sie mich einlüden. Ich gestehe indessen, daß ich auch im Fall einer Einladung nicht hierbleiben würde, nicht aus irgendeinem besonderen Grund, sondern nur, weil das so in meinem Charakter liegt.«
»Nun, da trifft es sich ja gut, daß ich Sie nicht eingeladen habe und nicht einladen werde. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Fürst, um gleich mit einemmal alles klarzulegen: da wir uns soeben darüber ausgesprochen haben, daß von einer Verwandtschaft zwischen uns nicht die Rede sein kann, obwohl eine solche für mich selbstverständlich sehr schmeichelhaft sein würde, so folgt daraus ...«
»So folgt daraus, daß ich aufstehen und weggehen soll?« sagte der Fürst, sich erhebend, und lachte dabei trotz der schwierigen Lage, in der er sich offenbar befand, ganz heiter. »Und bei Gott, General, obwohl ich absolut keine praktische Kenntnis davon habe, was hier Brauch ist und wie hier überhaupt die Menschen leben, so hatte ich mir doch gedacht, daß zwischen uns die Sache genau den Verlauf nehmen werde, den sie jetzt wirklich genommen hat. Nun, vielleicht ist es so auch ganz in der Ordnung ... Ich hatte ja auch damals auf meinen Brief keine Antwort bekommen ... Nun also, leben Sie wohl, und entschuldigen Sie, daß ich gestört habe!«
Die Miene des Fürsten war in diesem Augenblick so freundlich und sein Lächeln so frei von jeder Beimischung irgendeines verborgenen feindseligen Gefühls, daß der General plötzlich stutzte und seinen Gast in anderer Weise ansah; die ganze Veränderung seiner Ansicht vollzog sich in einem einzigen Moment.
»Wissen Sie, Fürst«, sagte er in ganz anderem Ton, »ich kenne Sie ja noch gar nicht, und auch Lisaweta Prokofjewna wird vielleicht den Wunsch haben, ihren Namensvetter zu sehen ... Warten Sie doch ein Weilchen, wenn Sie wollen und Ihre Zeit es erlaubt.«
»Oh, meine Zeit erlaubt es schon; meine Zeit steht ganz zu meiner Verfügung.« (Der Fürst legte sogleich seinen weichen, rundkrempigen Hut auf den Tisch.) »Ich muß bekennen, ich hatte auch darauf gerechnet, daß Lisaweta Prokofjewna sich vielleicht an das, was ich ihr geschrieben habe, erinnern werde. Vorhin, als ich dort bei Ihnen wartete, argwöhnte Ihr Diener, daß ich gekommen sei, um Sie um eine Unterstützung zu bitten; ich merkte das, und Sie werden wohl in dieser Hinsicht strenge Instruktionen erteilt haben; aber ich bin nicht deswegen hergekommen, sondern wirklich nur, um mit Menschen zusammenzukommen. Ich fürchte nur, Ihnen lästig gewesen zu sein, und das beunruhigt mich.«
»Hören Sie, Fürst«, sagte der General mit einem heiteren Lächeln, »wenn Sie wirklich ein solcher Mensch sind, wie es den Anschein hat, so wird die Bekanntschaft mit Ihnen vielleicht ganz angenehm sein; nur sehen Sie: ich bin von Geschäften stark in Anspruch genommen und muß mich gleich wieder hinsetzen und dies und das durchsehen und unterschreiben, und dann begebe ich mich zu Seiner Erlaucht und dann in den Dienst; so kommt es, daß, wenn mir auch der Verkehr mit guten Menschen Freude macht ... das heißt ... aber ... Übrigens bin ich von Ihrer vortrefflichen Erziehung so fest überzeugt, daß ... Aber wie alt sind Sie eigentlich, Fürst?«
»Sechsundzwanzig Jahre.«
»Oh! Ich hatte Sie weit jünger geschätzt.«
»Ja, man sagt mir, daß ich ein jugendliches Gesicht habe. Aber Sie nicht zu stören, das werde ich schon lernen und bald begreifen, weil es mir selbst sehr zuwider ist, jemanden zu stören ... Und schließlich sind wir, wie mir scheint, dem Äußeren nach in vielerlei Hinsicht so verschiedene Menschen, daß wir wohl nicht viele Berührungspunkte haben können. Aber wissen Sie, an diese letzte Bemerkung glaube ich selbst nicht recht; denn sehr oft scheint es nur so, daß keine Berührungspunkte vorhanden seien, und sie sind doch in Menge da ... das kommt von der menschlichen Trägheit her, indem die Menschen einander nur nach dem äußeren Schein klassifizieren und dabei keine Ähnlichkeiten finden können ... Aber ich langweile Sie wohl schon? Es kommt mir vor, als ob Sie ...«
»Nur zwei Worte: besitzen Sie wenigstens etwas Vermögen? Oder beabsichtigen Sie vielleicht, irgendwelche Beschäftigung zu ergreifen? Verzeihen Sie, daß ich so ...« »Aber ich bitte Sie, ich finde Ihre Frage sehr natürlich und begreiflich. Ich besitze zur Zeit gar kein Vermögen und habe vorläufig auch keine Beschäftigung, möchte aber eine solche haben. Ich habe jetzt von fremdem Geld gelebt; mein Professor Schneider, bei dem ich in der Schweiz eine Kur machte und mich wissenschaftlich weiterbildete, hat mir das Reisegeld gegeben, und zwar nur gerade ausreichend, so daß ich jetzt nur noch einige Kopeken übrig habe. Allerdings habe ich da eine geschäftliche Angelegenheit, in der ich einen guten Rat gebrauchen könnte; aber ...«
»Sagen Sie, wovon beabsichtigen Sie denn zunächst zu leben, und welches sind Ihre Pläne für die Zukunft?« unterbrach ihn der General.
»Ich wollte irgendwie arbeiten.«
»Oh, Sie sind offenbar ein Philosoph; indessen ... besitzen Sie nach Ihrem eigenen Urteil irgendwelche Talente oder wenigstens einige Fähigkeiten, das heißt solche, durch die man sich sein tägliches Brot verdienen kann? Verzeihen Sie wieder ...«
»Oh, es bedarf keiner Entschuldigung! Nein, ich besitze meiner Meinung nach weder Talente noch besondere Fähigkeiten; im Gegenteil, ich habe sogar, weil ich ein kranker Mensch bin, keinen regulären Unterrichtsgang durchgemacht. Was das tägliche Brot anlangt, so möchte ich meinen ...«
Der General unterbrach ihn wieder und begann, ihn von neuem zu fragen. Der Fürst erzählte noch einmal alles, was er schon vorher erzählt hatte. Es stellte sich heraus, daß der General von dem verstorbenen Pawlischtschew gehört und ihn sogar persönlich gekannt hatte. Warum Pawlischtschew sich für die Erziehung des Fürsten interessiert hatte, das wußte dieser selbst nicht zu erklären; vielleicht einfach aus alter Freundschaft mit seinem verstorbenen Vater. Der Fürst war noch ein kleines Kind gewesen, als der Tod seiner Eltern ihn zur Waise machte, war auf dem Lande aufgewachsen und hatte dort seine ganze Jugend verlebt, namentlich auch, weil sein Gesundheitszustand Landluft verlangte. Pawlischtschew hatte ihn ein paar alten Gutsbesitzerinnen, die mit ihm verwandt waren, anvertraut; es wurde für ihn zuerst eine Gouvernante, dann ein Hauslehrer angenommen; er erklärte übrigens, daß er sich zwar an alles erinnere, aber nur über weniges in befriedigender Weise zu berichten vermöge, da er sich über vieles seinerzeit nicht habe Rechenschaft geben können. Die häufigen Krankheitsanfälle hätten ihn fast ganz zum Idioten gemacht (der Fürst gebrauchte diesen Ausdruck: zum Idioten). Er erzählte endlich, daß Pawlischtschew eines Tages in Berlin den Schweizer Professor Schneider kennengelernt habe, der sich speziell mit diesen Krankheiten beschäftige, in der Schweiz, im Kanton Wallis, eine Heilanstalt besitze und dort nach seiner eigenen Methode Idiotie und andere Geisteskrankheiten mit kaltem Wasser und gymnastischen Übungen kuriere, und dabei seine Patienten auch unterrichte und überhaupt für ihre geistige Entwicklung sorge; zu diesem Professor Schneider habe Pawlischtschew ihn vor etwa vier Jahren nach der Schweiz geschickt, sei aber selbst vor zwei Jahren plötzlich gestorben, ohne weitere Anordnungen getroffen zu haben; Schneider habe ihm noch zwei Jahre lang Unterhalt gewährt und ihn behandelt; er habe ihn zwar nicht völlig geheilt, aber doch eine erhebliche Besserung seines Zustandes herbeigeführt; zuletzt habe er ihn auf seinen eigenen Wunsch und infolge eines eingetretenen Ereignisses jetzt nach Rußland geschickt.