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Henri zog sich an die Saalwand zurück, hinter sich spürte er die Kühle des Marmors. Er starrte zur Treppe hinüber.

Jetzt erschien dort die letzte Gestalt der feierlichen Prozession. Es musste Clemens sein. Der Papst, dessen Lieblinge einmal die Templer gewesen waren, seine für ihn zur Verfügung stehende Miliz. An seinen Händen klebte jetzt so viel Blut! Henri konnte ihn noch nicht erkennen, denn er blieb, da die Prozession unten ins Stocken geraten war, oben auf den Stufen stehen, eine Brüstung verdeckte sein Gesicht. Oh ja, Henri kannte dieses Gesicht gut. Es war feist, aufgeschwemmt von den vielen irdischen Genüssen, die dunklen Augen schwammen in feuchten Höhlen. Die Lippen voll, am Kinn das tiefe Grübchen, seitlich des abrasierten Schädels die lang heruntergezogenen Ohrläppchen.

Bertrand de Got, seines Zeichens der fünfte Papst Clemens.

Der Verräter.

Der Todgeweihte.

Jetzt setzte sich die Prozession wieder in Bewegung. Unten im Festsaal hatten sich die Mönche längst von der Tafel erhoben und waren demütig auf die Knie gefallen. Aber seltsam, jetzt hoben alle die Köpfe. Etwas erstaunte sie.

Und auch Henri spürte das Unbehagen.

Jetzt begriff er, woran es lag.

Und er erstarrte.

ZWEITER TEIL 

4 

Mitte April 1314, um Palmsonntag

Guillaume Imbert wurde nur »de Paris« genannt. Als er darauf bestand, mit seinen Dominikanern in Avignon den Sonntag vor dem Osterfest und den Taufen mit einer Messe zu feiern, verstand das in der Kirchengemeinde niemand. Aber das war dem Großinquisitor und Beichtvater des Königs einerlei, denn er hatte mit seiner unangemeldeten Visite der Stadt Avignon nicht wirklich die Feier des Einzugs Jesu in Jerusalem im Sinn. Er hatte im Sinn, hier die letzten Templer, die noch auf seiner geheimen Todesliste standen, zu finden. Er wusste zwar, dass diese nur in Rom gerichtet werden konnten. Aber wenn er sie der Ketzerei überführte, durfte er sie überall auslöschen.

Zu nichts anderem benutzte er seine überraschende Anwesenheit im Palast. Und nun die Messe im Dom von Avignon.

Ahnte Imbert, dass er dem am meisten gesuchten Soldaten Christi so nahe war? Als er am Ende der hohen Gäste feierlich die Treppe zum Festbankett im Dominikanerpalast heruntergeschritten war, genoss er die Aufmerksamkeit wie eine schöne Frau. Ja, auch er war schön. Und er stand gern im Mittelpunkt. Obwohl er wusste, dass aller Augen nur deshalb auf ihn gerichtet gewesen waren, weil sie an seiner Stelle den Papst erwarteten.

Aber Clemens war einmal mehr leidend und wollte niemanden sehen. Imbert sagte das den anwesenden, enttäuscht wirkenden Gästen. Sie hätten es wissen müssen, denn der Papst ließ aus Unpässlichkeit selbst die königlichen Gesandten oft wochenlang warten, bis er sie empfing, sein körperliches Wohlbefinden stand über seinen Pflichten. Die Phasen des päpstlichen Unwohlseins nahmen immer mehr zu. Nach seiner Krönung waren es rheumatische Beschwerden gewesen, die ihn quälten. Inzwischen schien ihn etwas im Inneren zu zerfressen wie ein Krebs, der sich durch seine Gedärme wühlte. Und die Ärzte waren mit ihrer Kunst am Ende.

So war es also Gottes Wille, dass sein Stellvertreter auf Erden Schmerzen litt. Vielleicht für seine Sünden, vielleicht weil er viel zu lange gezögert hatte, die verfluchten Templer zu verfolgen.

Auch der Großinquisitor hatte ihn nicht trösten können, aber er nahm ihm die Pflicht ab, zum Festessen hinunterzugehen. Das war nicht ganz uneigennützig geschehen, denn er brauchte neben sich keinen gleich starken Mann. Insgeheim hasste er Clemens sogar, der ihn einmal entmachtet hatte, sich dann aber gezwungen sah, ihn wieder mit allen Vollmachten einzusetzen. Imbert schüttelte die Erinnerung ab. Er wollte nur seiner Fährte folgen. Als er unten im Festsaal angekommen war, nahm er tatsächlich wahr, dass daraufhin zwei Männer auffällig schnell, geradezu fluchtartig den Festsaal verließen, als flöße er ihnen Furcht ein.

Er glaubte, sie zu kennen. Vor allem den mit der Augenbinde. Wo war er dieser hoch gewachsenen, aristokratisch wirkenden Gestalt schon einmal begegnet? Aber sie verschwanden zu hastig. Und der Großinquisitor wandte seine Aufmerksamkeit wie die schon vor ihm eingetretenen Kirchenfürsten ausgiebig der Tafel mit ihren Verführungen zu. Er setzte sich ungeniert unter den Baldachin des Papstes, tätschelte den weißen Hund des Papstes, der den Kopf auf sein Knie legte, ließ sich roten Wein aus funkelnden Karaffen einschenken und sprach dem Wildbret zu.

Den Geschmack des marinierten Wildes in Wacholderschaum hatte Imbert »de Paris« noch immer im Mund. Er rülpste unterdrückt hinter vorgehaltener Hand und trank einen Schluck sauren Messwein. Er verzog das Gesicht, dann wandte er sich um und sah sich der Gemeinde gegenüber.

Sie waren alle gekommen. Aber wollten sie die Passionszeit feiern oder den Beginn des Passahfestes? Das war ihren erwartungsvollen Unschuldsmienen nicht zu entnehmen.

Wie es einem Großinquisitor gebührte, ließ er seine misstrauischen Blicke über ihre Köpfe gleiten. War ein Verdächtiger darunter, ein Ungläubiger, ein Ketzer? Imbert war es gewohnt, blitzschnell wahrzunehmen, auszusondern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er wusste, die Feinde der Kirche und des wahren Glaubens lauerten überall. Manches Mal verspürte er sogar Furcht. Nur im Kreis der domini canes, der Hunde des Herrn, wie er seine Dominikaner heimlich nannte, die seine Geschäfte kräftig unterstützten, fühlte er sich sicher.

Er sog wie ein Spürhund die Luft in der Kirche ein. Es roch nach Weihrauch und Myrrhe im Weihwasser, mit dem die grünen Zweige in den Händen der Gläubigen zuvor besprengt worden waren. Dieser Geruch war ihm vertraut, fast wie eine Heimat. Darin lag nichts Fremdes, Gefährliches.

Imbert atmetet tief ein und sagte: »Sechs Tage vor dem Osterfest kam der Herr in die Stadt. Er kam in die Mauern seiner Feinde. Aber er wusste es nicht…«

Ja, dachte der Großinquisitor, die Mauern seiner Feinde sind auch die meinen. Wir sind überall in Feindesland. Und deshalb müssen wir unbarmherzig sein.

»Ruhm und Preis und Ehre sei Dir, Erlöser und König! Jubelnd rief einst das Volk sein Hosianna Dir allein zu!«

Er stockte.

Dieser Mann, der sich so eilig davongemacht hatte. Gott helfe mir! Wer war er? Von ihm geht eine Gefahr aus! Das kann ich körperlich spüren!

Nur mühsam sprach er weiter. »Gepriesen sei, der kommt im Namen des Herrn! Gepriesen seien auch alle seine hohen Diener der Kirche!«

Den zweiten Satz hatte Imbert »de Paris« sich gerade eben einfallen lassen, denn er stand nicht im Liturgietext. Er musste ihn einfach einfügen, denn waren nicht in Wahrheit er selbst und die wenigen nachgeordneten Würdenträger der hohen Kirche in ihrem unermüdlichen Kampf gegen die Häretiker die zu Preisenden?

»Sechs Tage vor dem Osterfest kam der Herr in die… in die Mauern seiner Feinde…!«

Nein, das hatte er schon gesagt. Es wurde ihm schnell bewusst. Er war durcheinander, denn soeben war ihm eingefallen, woher er den Mann mit der Augenbinde aus dem Konventssaal kannte!

Es war der Ketzer! Henri de Roslin! Der meistgesuchte Tempelritter der Erdenscheibe!

Er hatte mit seinen homosexuellen Brüdern das Haupt des Muhammad angebetet und ihn mitten auf den Mund geküsst – vielleicht auch noch woandershin! Henri de Roslin! War es möglich, dass er in Avignon weilte? Man vermutete ihn doch bei Gisors im englischfreundlichen Herzogtum Bretagne!

Imbert kam nur mühsam in die Messfeier zurück. Schon wurde die Gemeinde unruhig. Er nahm sich zusammen. Es gelang ihm, die Leidensgeschichte Jesu nach Matthäus zu verlesen.