Schon diese Geschichte allein brachte in die gottesdienstliche Feier des Palmsonntags die Spannung, die man seit den frühchristlichen Osterfeiern hören wollte. Leiden und Tod, Auferstehung und Erhöhung. Auch Imbert selbst, obwohl er jedes Wort auswendig kannte, wurde davon immer wieder aufs Neue ergriffen. Aber in diesem Moment war Imbert noch von einer anderen Spannung ergriffen, und er übertrug sie auf die Gemeinde. Es war die innere Anspannung des Jägers, der wittert und die Spur seiner Beute aufgenommen hat.
Würde es ihm gelingen, die Ketzer zu fangen, die sich in Avignon verstecken sollten? Konnte er vielleicht sogar jenen Schlimmsten aller Schlimmen überwältigen, der ein Attentat auf den König vorbereitet hatte und bisher jeder gestellten Falle entkommen war?
Imbert stellte sich vor, wie er mit diesem Templer in den Kellern der bischöflichen Burg allein sein würde. Er persönlich hatte das Folterprogramm für diese hart gesottenen Ritter, die alle Strapazen gewöhnt waren, ausgeklügelt. Glühende Zangen! Nacktes Fleisch! Panisches Flehen und abgrundtiefe Blicke.
Er erschauerte.
»Hosianna dem Sohne Davids! Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!«
Zwischen diesen Worten erinnerte er sich, wie er Henri de Roslin im königlichen Palast auf der Seine-Insel begegnet war, später hatten sie sich in der Sainte Chapelle getroffen und gemeinsam gebetet. Und als die Templer schon verflucht waren und zu Tausenden in den Kerkern einsaßen, hatte Imbert den flüchtigen Schatzmeister der Soldaten Christi verfolgt wie keinen anderen. Er glaubte sogar, ihn bei dem großen Autodafé in Paris vor Monatsfrist, als der greise Großmeister Jacques de Molay und sein Vertreter Geoffrey de Charney brannten, in der Menge entdeckt zu haben. Was für ein interessanter und schöner Mann! Imbert riss sich zusammen und fügte in Gedanken hinzu: Bevor er dem Ketzerwahn verfiel.
»Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, er ist arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin!«
Die Streckbank in den Kellern der Burg. Der nackte, ausgestreckte Leib des Frevlers. Feuer! Schreie! Genugtuung!
»So esset nun die Knospen und Triebe der geweihten Zweige, um Krankheiten vorzubeugen, stecket die Palmzweige in Kreuzform auf die Äcker und verbrennt sie, befestigt sie an den Kruzifixen im Haus, um Euch vor jedem Ungemach zu schützen, besonders vor bösen Blicken.«
Die Gemeinde sprach die Gebetsformeln nach. Imbert schlug das Kreuz. Er dachte: Jesus wird hier zur Stunde sterben, da man im Tempel die Passahlämmer schlachtet, am Nachmittag des 14. Nisan. Nach der Fußwaschung wird die große Mahlzeit beginnen, das letzte Abendmahl. Kein Wildbret in Wacholderschaum. Einfaches Brot, saurer Wein. Imbert schüttelte sich innerlich. Diese Seite des biblischen Hintergrundes war ihm zuwider. Er brauchte Feste und Kerzenschein. Und die gläubigen Blicke der Männer, die sich nur verschämt an seiner Schönheit weideten.
Henri de Roslin, dachte er, ich werde dich finden!
Der Großinquisitor konnte sich kaum noch auf die Messe konzentrieren, er spürte, wie etwas Kaltes seinen Rücken hinunterlief. Das passierte ihm öfter.
Wir werden allein sein!, dachte er. Niemand wird uns sehen, noch hören. Und dann…
Und dann…
Als Henri de Roslin im Paradies angekommen war, hörte er hinter sich schnelle Schritte. Der ausladende sakrale Eingangsbereich des Dominikanerklosters mit dem großen runden Brunnen ohne Fontäne in der Mitte und den filigranen Fenstern hallte wider von Gottfrieds Rufen.
»So bleib doch stehen, Bruder!«
Und dann rief er hinterher: »Jetzt ist alles verloren!«
Henri wandte sich um. »Ja. Jetzt können wir uns nur noch selbst retten. Unseren Plan müssen wir aufgeben.«
»Sieh es als eine glückliche Fügung und einen Fingerzeig!«
»Und er soll überleben?«
»Lass uns verschwinden, Henri. Wenn Imbert dich erkannte, bist du in ganz Avignon nicht mehr sicher.«
»Er wird mich nicht erkannt haben. Ich habe den Konvent rechtzeitig verlassen. Und wenn doch – Avignon ist groß, er findet mich nicht.«
Sie gingen langsamer hinaus, um bei den Mönchen, die am Festessen nicht teilgenommen hatten, weil sie das Paradies bewachten und gerade ein Opus Dei beteten, keinen Verdacht zu erwecken.
»Wir kommen nicht an Clemens heran. Es war sowieso Irrsinn zu glauben, die Tat könnte im Kloster gelingen. Wir müssen es anders anstellen.«
»Ist er wirklich krank? Oder hat er Verdacht geschöpft? Hatte er eine Vorahnung, dass wir auf ihn warteten?«
Gottfried zuckte die Schultern. »Man hört über seinen Zustand unterschiedliche Dinge. Er soll schon in der Zeit, als er noch Erzbischof von Bordeaux war, sein Testament gemacht haben. Und als er in Monteux die auf dem Konzil von Vienne vereinbarten Dekretalien verlesen sollte, war er so schwach, dass er die Zeremonien nicht selbst abhalten konnte, die zur Gültigkeit des Verkündeten notwendig waren.«
»Dann ist er offenbar sehr hinfällig geworden…«
»Warten wir doch, bis sich das Problem Clemens von selbst erledigt!«
»Nein, Gottfried. Das ist nicht die Strafe, die er verdient. Er muss erfahren, was es heißt, als Mensch von einem anderen Menschen ausgelöscht, von einem Sterblichen für nichtswürdig erklärt zu werden. Das wird seine Lektion für das Fegefeuer sein, das ihm bevorsteht.«
»Wohin wird er gehen, wenn er Avignon verlässt?«
»Wenn er wirklich sehr krank ist, vielleicht in seine Heimat, nach Uzeste. Vielleicht nach Chateauneuf. Oder zurück zu den Rittern nach Roquemaure, wo er sich am sichersten fühlt.«
»Ich bleibe an deiner Seite!«
»Nein. Kehr du zurück ins Kloster, Gottfried. Niemand verdächtigt dich, ein Templer zu sein. Du bist Dominikaner, ein Deutscher dazu. Im Kloster bist du uns nützlicher. Versuche in den kommenden Tagen zu erfahren, was der Papst plant. Aber bleib dem Großinquisitor fern, auch wenn er dich nicht von Angesicht kennt! Er ist ein gefährlicher Mann!«
»So leb inzwischen wohl, Henri. Gott schütze dich auf deinen Wegen!«
»Gott schütze auch dich, Bruder Gottfried!« Henri holte sein Pferd und ritt aus der Stadt hinaus. Er wollte die Mauern Avignons für ein paar Tage meiden. Es schien ihm sicherer. Wenn die Messe am morgigen Palmsonntag gelesen war, würde der Großinquisitor vielleicht schon abreisen. Dann konnte er, Henri, wieder zurückkehren. Er musste sich mit dem Sarazenen beraten.
Als Henri nach Palmsonntag in die Stadt zurückkehrte, war die Karwoche angebrochen.
Avignon barst über von Gläubigen, die Kleider auf den Plätzen ausstreuten, bevor sie darüber schritten, grüne Zweige in Kreuzesform herumtrugen und in Prozessionen die Perikopen von der Salbung Jesu in Bethanien oder von der Ankündigung der Verleugnung des Petrus sangen.
Einmal mehr fiel ihm der bestialische Gestank in den engen, überfüllten Gassen auf. Die Stadt verfügte nicht über ein Abwässersystem, wie sämtliche Kirchenpaläste und Klöster es besaßen, in deren Latrinentürmen es steinerne Sitze gab und deren Fäkalien in umgeleitete unterirdische Bäche gespült wurden. Das weltliche Avignon, voll gestopft mit Tausenden von Gläubigen, aber auch mit Handwerkern, Händlern, Prostituierten, Astrologen, Dieben und Geldmachern, stank zum Himmel.
Aber da der Himmel weit war, war auch der Gestank groß.
In seine Gedanken hinein erwartete ihn Uthman ibn Umar mit sorgenvoller Miene. Der frühere sarazenische Krieger und jetzige Korangelehrte hatte nicht nur Heimweh nach Cordoba, sondern ihn plagten auch schlechte Nachrichten.
»Endlich zurück, Christ! Du warst zwar nur zwei Tage fort, aber es kam mir vor wie ein ganzer Mondumlauf. Inzwischen ist viel geschehen. Überrascht es dich, wenn ich sage, man scheint nach dir zu suchen? Sie schleichen überall herum. Zwar nicht in aller Öffentlichkeit, aber dafür heimlich umso hartnäckiger. Schon verhaften sie völlig Unschuldige auf den bloßen Verdacht hin, mit den Templern etwas zu tun gehabt zu haben. Die Anzeige einer missgünstigen Wäscherin oder eines betrunkenen Würfelmachers reicht aus!«