Voller Abscheu ließ er den Ort rechter Hand liegen und beschleunigte den trägen Trab seines Pferdes.
Kurz darauf kam der Kirchturm von La Reole in Sicht. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Sichernd beobachtete Henri de Roslin die Umgebung. Ringsherum Felder und Hügel, Waldstücke im Sonnenlicht, auf der Weide schon Ochsen und Schafe, den hohen, fast durchsichtigen Himmel durchmaßen fliegende Vogelschwärme, die irgendein Zeichen setzten. Henri blickte auf, verstand aber nicht, dieses Zeichen zu deuten.
Er ritt näher heran. Dann hielt er wieder. Umkreiste die ehemalige Commanderie einmal. Dann noch einmal. Er konnte nichts Verdächtiges entdecken.
Aber er wusste, die Feinde waren schlau, und sie lauerten überall. In der Bretagne, wohin er nach den ersten Hinrichtungen der Brüder vor einigen Jahren zuerst geflüchtet war, brachen sie während des Gottesdienstes sogar aus Altären und Chorräumen hervor – waffenklirrend, mit ihrem Geschrei die Würde des Ortes verletzend. Und hatten sie später, als er von der Bretagne nach Süden zog, nicht sogar Friedhöfe geschändet, um in den Besitz des Schatzes zu gelangen?
Sie waren plump, roh und menschenverachtend, diese angeblichen Verteidiger des allerchristlichsten Königs und seines Papstes, der ihn in der Kathedrale von Reims willfährig geküsst und gesalbt hatte. Henri schüttelte sich bei diesen Erinnerungen.
Vor seinen Augen blieb alles friedlich.
Er gab sich einen Ruck, schnalzte leise mit der Zunge und ritt in den Innenhof der kleinen, schmucklosen Kirche ein. Die Ruhe des sonnigen Nachmittags lastete über dem Ort. Er wollte gerade absteigen, als er etwas Verdächtiges bemerkte. In der Öffnung des spitz zulaufenden Turmes hatte etwas geblinkt.
Henri verharrte regungslos. Er flüsterte seinem Hengst beruhigende Worte zu, das Tier durfte jetzt keinen Laut von sich geben.
Henri de Roslin überlegte. Konnten sie dort oben auf ihn lauern? Möglich war alles. Sie wussten alles und erfuhren alles durch ihre überall willfährigen Spitzel. Selbst einfache Bauern und Tagelöhner standen inzwischen in ihren Diensten, auch wenn sie die Todeslisten, auf denen Henri de Roslin an der Spitze der Gesuchten stand, nicht lesen konnten. Warum sollten sie also nicht herausgefunden haben, dass hier jemand, der in einer herbstlichen Mondnacht vor vier Jahren von Norden gekommen war, einen Schatz versteckt hatte. Einen Schatz, an dem Blut klebte.
Kurz entschlossen sprang Henri vom Pferd. Er band die Zügel um einen Ast und ging auf die unverputzte, brüchige Vorderseite des Kirchengebäudes zu. Im Inneren empfing ihn schattige Kühle. Der bis auf einen einfachen Altar aus Holz leere Raum war mit Staub überzogen, an den Fensterhöhlen hatten Spinnen ihre Netzfallen gebaut und lauerten regungslos als schwarze Flecken auf Beute. Henri ging mit angespannten Sinnen in den Raum hinein. Er bemerkte nichts Auffälliges. Vor dem erbarmungswürdig vernachlässigten Altar sank er in die Knie, bekreuzigte sich und sprach sein Gebet. Es endete mit den Worten:
»Nicht uns, nicht uns, Herr, gib die Ehre, sondern deinem Namen!«
Danach blieb er noch einen Moment in seiner knienden Haltung und lauschte aufmerksam. Er stand auf und ging die wacklige Holztreppe hinauf, ein Geländer gab es nicht. Oben angekommen fiel ihm ein Sonnenstrahl ins Gesicht. Er schloss geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, begriff er, woher das Blinken gekommen war. Eine Stimme sagte:
»Du kommst spät, Henri! Lässt man seine Freunde so lange warten?« Die kleine, hagere Gestalt neben dem Fenster rückte sich die schief sitzende Brille zurecht. Und Henri musste lachen. Ja, er war spät. Und Joshua ben Shimon war wie immer der Schnellere gewesen.
»Ich freue mich, Joshua, dass die Sonne im Brillenglas eines Freundes blinkt und nicht auf der Schwertschneide eines Feindes. Lass dich umarmen!«
Während sie sich begrüßten, sagte jemand mit schottischem Akzent im Hintergrund: »Und wer küsst mich?«
Henri war erfreut, auch den Knappen wohlauf zu sehen, den er bei dessen Mutter in Beaumont zurückgelassen hatte, denn sie hatten getrennt reiten müssen, um die Feinde zu täuschen. »Komm her, Sean of Ardchatten, auch du sollst nicht ohne Zuwendung bleiben, solange wir zu solchen Gunstbezeugungen als freie Männer noch fähig sind.«
So standen die drei männlichen Gestalten für einen Moment als ein Körper zusammengerückt im Schatten des Raumes, die Sonne deutete mit einem Zeigefinger aus Licht auf sie, und von unten her ertönte das Wiehern von Henris Reittier, in das zwei weitere Pferde von der Rückseite der Kirche her einfielen.
»Machen wir uns an die Arbeit«, schlug Henri vor.
Dem Juden war bei der überschwänglichen Begrüßung die gehörnte Kappe verrutscht, aber Henri bemerkte mit einem Seitenblick, dass er das Zeichen, einen Ring aus rotem Tuch, vorschriftsmäßig auf der linken Rockseite trug. Und der Knappe verstaute seine Querflöte.
Sie gingen in eine Kammer des Obergeschosses, in der früher der Schrank mit den Hostien und geweihten Geräten gestanden hatte. Die vier Bohlenbretter waren schnell gelockert. Darunter kam ein Hohlraum zum Vorschein, in dem vier eingewickelte längliche Kisten lagen. Sie lösten das graue Leinentuch, öffneten den Eisendeckel und starrten auf die Schätze.
»Mensch! Münzen! Gold! Silber!« Der Knappe wollte ungestüm zugreifen. Aber Henri hinderte ihn mit einer ruhigen Handbewegung daran.
»Warte! Es ist Mammon, nicht wert, den Verstand zu verlieren. Man kann es anschauen und für nützliche Dinge verwenden – das ist alles. Beherrsche dich.«
Sean war rot geworden. »Ich dachte nur, davon könnte ich meiner Guinivevre, die in Beaumont sehnsüchtig auf mich wartet, hundert hübsche Tücher mit Stickereien kaufen…«
»Es ist nicht ausgeschlossen«, erwiderte Henri, innerlich belustigt, »dass du auf irgendeinem Markt solche Tücher für dein Mädchen erstehen wirst. Aber nicht jetzt. Und nicht von diesem Geld. Es ist für andere Zwecke bestimmt.«
»Hier liegt es unberührt«, sagte Joshua heiter, »und der König sucht es mit seinen Hundertschaften immer noch verzweifelt auf Gisors.«
»Dort kann er suchen, bis ihm die Augen herausfallen. Auch in den benachbarten Tempeln von La Roche-Guyon und Château-Gaillard wird er nichts finden. Ich habe unseren Schatz schon vor Jahren von dort weggeschafft und über Verstecke im ganzen Land verteilt. Denn ich konnte mir ausrechnen, dass unsere Templerburg in das Visier Philipps und seiner Schergen fällt. Sie brauchen so dringend Geld für ihre Intrigen und Scharmützel gegen Fürsten und Fürstbischöfe, dass sie dumm werden.«
Sie zogen alle Kisten heraus. Sie waren sämtlich prall gefüllt mit Goldmünzen, aber auch mit silbernen Medaillons und schmalen Barren.
»Woher kommt das viele Geld?«, wollte Sean wissen.
»Das brauchst du nicht zu wissen. Achte nur darauf, dass du bei seinem Anblick nicht gierig wirst.«
»Kann ich es nicht trotzdem erfahren? Es hilft mir, es mit Abstand zu betrachten.«
Henri sah seinen Knappen an, dessen Blicke ohne Arg waren. »Nun. So viel kannst du immerhin wissen. Es stammt aus unserem Tempel in Paris, dort betrieben wir ein öffentliches Bankhaus.«
»Und das wirft so viel ab? Alle diese Schätze? Dann möchte ich auch ein Bankhaus eröffnen!«
»Sean of Ardchatten!«
»Verzeih, Joshua ben Shimon.«
Henri erklärte geduldig: »Viele Menschen überließen uns vertrauensvoll ihre Reichtümer, und nicht von ungefähr, denn wir arbeiteten korrekt. Es war alles legal, wir hatten sogar geregelte Kassenzeiten, die überall aushingen. Wir führten sechzig Privatkonten, die Mitgliedern des Hochadels, Kirchenfürsten, auch Würdenträgern unseres Ordens gehörten. Selbst der königliche Schatz lag dort.«