»Das war in der letzten Zeit nirgendwo in französischen Landen anders, Sarazene!«
»Aber hier und jetzt gebärden sich die königlichen Behörden so, als schrieben wir euer Jahr 1311 und der Tempelorden müsse der Ketzerei erst noch überführt werden.«
Henri konnte zu keinem anderen Schluss kommen, als dass er selbst diese neue Welle der Verfolgung ausgelöst hatte. Der Großinquisitor musste in seiner Person etwas Verdächtiges gewittert haben. Inzwischen musste er also über ihn Bescheid wissen. Wie viel Spielraum blieb ihm unter diesen Umständen noch? Wenn sie ihn erkannt hatten und wussten, dass einer der letzten noch lebenden Tempelritter unversehrt mitten in Avignon aufgetaucht war, dann kam es einem Wunder gleich, dass er noch in Freiheit war.
Er sagte: »Vielleicht habe ich die Bedeutung meiner Person unterschätzt. Oder die Angst der anderen Seite. Sie wollen uns von der Erdoberfläche tilgen, ohne dass auch nur die geringste Spur bleibt. Kein Zeuge darf überleben. Deshalb setzen sie alles in Bewegung, wenn auch nur der Verdacht entsteht, ein Tempelbruder könne sich am helllichten Tag zeigen. In ihren Augen scheinen wir überirdische Kräfte zu besitzen.«
»Wohl eher unterirdische! Sie glauben doch, du seist mit dem Iblis im Bunde.«
»Sie werden noch gnadenloser vorgehen, als wir uns das bisher vorstellen konnten.«
Uthman machte trotz dieser düsteren Worte ein hoffnungsvolles Gesicht. »Höre! In Avignon ist ein Mann eingetroffen, der uns weiterhelfen kann. Allerdings weiß er noch nichts davon. Ich kenne ihn aus unserer gemeinsamen Zeit in Aragonien, wo er am Hof des Königs lebte, als die Reconquista schon im Gange war. Eine Woche vor eurem Osterfest stieß ich am Abend mit ihm auf der Stadtbrücke zusammen. Er starrte so lange in die Rhone, dass ich schon befürchtete, er wolle hinunterspringen. Aber er ist ein Philosoph des Wassers, musst du wissen, sein ganzes, geheimes Wissen bezieht er aus den Tiefen der Fluten.«
»Sehr spannend. Was ist mit diesem Mann? Warum sollte er uns helfen können?«
»Habe Geduld! Du weißt ja, Geduld ist die Tugend der Wissenden.«
»Und die Folter der Verfolgten. Wir haben nicht viel Zeit. Erzähle weiter!«
»Er war einst eine unzähmbare Natur, von seinen wilden Streichen sprach das ganze Land Aragonien. Aber die Wende seines Lebens kam, als er einer verheirateten Frau nachstellte, die er mit willenlosen Instinkten begehrte. Tatsächlich erreichte er, dass sie ihn in ihr Schlafgemach vorließ. Dort erlebte er etwas Furchtbares. Die bleiche Schöne reißt sich das seidene Schlafgewand herunter und entblößt ihren weißen Busen. Und der entsetzte Liebhaber kann es nicht fassen. Er erblickt von einer unbekannten Seuche – vielleicht ist es die Pest, vielleicht die englische Krankheit – zerfressene Brustspitzen. Ein unerträglicher Anblick. Er beschließt in diesem Augenblick, als sein Herz stehen bleibt, das große Elixier des Lebens zu suchen, die Medizin für das Unheilbare, den Stein der Weisen.«
Henri war beeindruckt, sagte aber: »Ist er Alchemist? Gott bewahre!«
»Er fand das große Elixier, Henri de Roslin!«
»Ich weiß trotzdem noch immer nicht, warum du mir das erzählst, guter Uthman.«
Der Sarazene blickte ihn schief an. »Er kennt inzwischen alle Heilmittel. Alle, die heilen, und auch alle, die schaden. Verstehst du endlich? Er kann alle Gifte mischen, auch die unsichtbaren. Und hier kommt Papst Clemens ins Spiel.«
»Mmm…«
»Höre weiter, damit du verstehst. Bei den Mönchen auf dem Mont Serrât lernte unser Mann die großen Sprachen der Zeit, in Compostella die Wissenschaften. Er wird Minorit und zieht als Wandermönch herum, kein Land, in dem er nicht ist. In Neapel lernt er den Gelehrten Arnald de Bachuone kennen, einen Katalanen, der aus Iberien als Teufelsanbeter vertrieben worden war. Von diesem Mann lernt er die wichtigsten Prozesse der geheimen arabischen Chemie, die nicht einmal ich kenne. Er lernte auch die Herstellung von Scheidewasser, um Metalle zu lösen – und damit auch die Alchemie. – Nun? Was sagst du?«
»Ich sage niemals etwas, bevor ich nicht alles Wichtige zu Ende gehört habe.«
Der Sarazene nickte befriedigt. »Wenn wir eine Mischung aus Salpeter, Alaun und Vitriol brennen – was geschieht dann?«
»Wahrscheinlich… geschieht dann irgendetwas.«
»Sehr richtig, Christ. Aber was? Was, um Himmels willen? Nun, ich verrate es dir.« Uthman ging einmal im Kreis herum, um seine Aufregung zu bändigen, dann grinste er verschmitzt. »Mit dieser Mixtur können wir uns nämlich daranmachen herauszufinden, was der innerste Kern aller Stoffe ist. Und wir können alle Stoffe und Metalle umwandeln.«
»Darüber wird sich Clemens freuen!«
Uthman lachte gut gelaunt. »Noch mehr, wenn er wüsste, dass es Stoffe gibt, die überhaupt keine Spuren hinterlassen – und töten!«
»Ist das dein Ernst?«
»Mein Ernst, Henri de Roslin. – Willst du weiter zuhören?«
»Warum nicht?«
»Vor ein paar Jahren, er ist inzwischen beinahe sechzig Lebensjahre alt, reist mein Bekannter nach Palästina. Als er zurückkommt, ist ihm daran gelegen, alle Rechtgläubigen zum Christentum zu bekehren. Im algerischen Bugie wird er dafür einige Jahre eingekerkert. Das zweite Mal wird er in Algier gesteinigt und entgeht mit knapper Not dem Tod. Erst diese Erlebnisse heilen ihn von seinem Missionseifer. Fortan setzt er ganz auf Versöhnung der Gegensätze. Und seit er am Anfang dieses Jahres aus dem Orient zurückgekehrt ist, widmet er sich ganz der Medizin – und der Alchemie. Man sagt, er habe im Auftrag eines Benediktiners nobles Gold gemacht, dreiundzwanzig Karat, zehn Gran fein – aus Quecksilber, Zinn, Blei und anderen geheimen Stoffen.«
»Hochinteressant! Was ist mit Clemens?«
»Gewiss. Clemens wird nicht an Gold sterben. Aber es muss auch nicht unbedingt ein Kurzschwert sein, welches eine lange Blutspur hinterlässt. Vielleicht ist ein feiner Stoff viel besser, den ihm jemand unter die Speisen mischt. Ein Gift, welches das Fleisch, das er isst, noch schmackhafter macht, sodass er es wie ein Tier hinunterschlingt. Wenn er gegessen hat, ist er schon so gut wie tot, und seine schlauen Ärzte werden finden, der gierige Papst habe sich überfressen. Eine Sünde bei einem magenkranken Mann, eine noch viel größere Sünde bei einem darmkranken Mann, wie er es ist.«
»Gift ist nicht meine Sache, Uthman. Es ist etwas für Intrigen, für Feigheit und Heimtücke. Ich ziehe den offenen Streich mit dem Schwert vor.«
»Gut. Dann lass mich dein Heimtückischer sein! Ich habe keine Angst davor, in aller Stille zu töten. Nicht du musst deinen inneren Auftrag vollenden und Clemens aus dem Weg räumen.«
»Nein. Das ist meine Aufgabe. Es geht um die Rache für meine Brüder!«
»Du bist Clemens durch Schwur und Unterwerfung verpflichtet!«
»Das weiß ich! Oh, ich weiß es zu genau! Deshalb will ich die Sache auch hinter mich bringen – egal wie!«
»Also?«
Henri sagte zögernd: »Solches Gift kann dein Bekannter mischen?«
»Wir dürfen ihm nur nicht sagen, zu welchem Zweck.«
»Wo finden wir diesen Teufelspartner?«
Während der Sarazene sich bemühte, den Alchemisten und geheimen Mediziner zu einem Treffen zu bewegen, wartete Henri in seiner Herberge. Es schien unvernünftig, nicht sofort aus der Stadt auszuziehen, denn die Gefahr lauerte überall. Er konnte es buchstäblich sehen, weil dunkle Gestalten jetzt überall an den Straßenecken und in den Eingängen von Häusern und Palästen herumstanden oder unschlüssig hin und her gingen. Vor den Eingängen der Kirchen saßen Bettler, die gerade in der Stadt eingetroffen sein mussten.