Aber Henri wollte nicht davonlaufen. Wenn sie ihm auf die Spur kamen, dann würde er kämpfen. Es würde ihn beruhigen, einige seiner Feinde mit dem Kurzschwert niederzustrecken, es war für einen Kämpfer immer gut, auf angespannte Gefühle Taten folgen zu lassen. Er hatte die Belagerung und den Fall der letzten christlichen Bastion Akkon im Heiligen Land von Syrien als neunzehnjähriger Knappe an der Seite seines Herrn Wilhelm von Beaujeu miterlebt, wo viele Templer im griechischen Feuer der Muselmanen, das mit Wasser nicht zu löschen war, elend umkamen. Er war einer der zehn Überlebenden von ehemals fünfhundert gewesen, die sich nach Zypern retten konnten.
Seitdem war er ein Kämpfer – wenn es nötig war.
Uthman, der Sarazene, der aus vielen Gründen sein Freund war, hatte versprochen, das Treffen am späten Abend, wenn alles dunkel war und in der Stadt die nächtlichen Prozessionen begannen, herbeizuführen. Dann würden sich die Schatten in der Dunkelheit verlieren, und sie konnten darin untertauchen.
Jetzt war es kurz vor Einbruch der Nacht. Henri stand am kleinen Fenster, dessen dünne Vorhänge sich in einer Brise aus Süden bewegten. Er schaute über die Stadt, die sich langsam in ein Meer von Fackeln, lodernden Pechpfannen und brennendem Kienspan in riesigen Kesseln verwandelte. Der Geruch von verbrannten Kräutern, von Myrrhestäbchen und Weihrauch drang zu ihm. Die Gesänge nahmen zu und schwollen bald zu einem einzigen Gesang an. Auch Henri liebte die Karwoche mit ihren inbrünstigen Gebeten und der Vorbereitung auf das wichtigste Fest der Christenheit, aber diesmal nahm er nicht daran teil.
Er war so in Gedanken versunken, dass er die Geräusche auf der Treppe nicht wahrnahm. Er wusste nur, die Herberge war jetzt am Abend verlassen. Die beiden übrigen Gäste, zwei harmlose Goldschmiede aus Aiguës Mortes, dem Mittelmeerstützpunkt für den Levantehandel, befanden sich bei den Prozessionen. Sie wollten dafür beten, dass der lebenswichtige Hafen ihrer inzwischen aufgegebenen Stadt nicht weiter versandete. Der Wirt hatte die Schenke geschlossen.
Plötzlich hatte Henri das Gefühl, als befände sich jemand in seiner unmittelbaren Nähe. Er rief:
»Uthman?«
Doch es gab keine Antwort. Stattdessen entstand durch die offene Zimmertür ein Sog von irgendwoher.
Henri griff instinktiv nach seinem pfeildünnen Panzersteckdolch. Er lauschte, dann sprang er nach draußen. Der Flur lag dunkel und leer vor ihm.
Dann sah er den Umriss des Mannes.
Seine bizarre Silhouette zeichnete sich vor dem Butzenfenster ab, hinter dem eine Pechfackel auf der Gasse zur Ortsseite hin flackerte.
»Wer seid Ihr?«
Der Schatten geriet in Bewegung. Er sprang auf ihn zu. Henri hob das Schwert, er hörte ein scharfes Ausatmen, dann ein schwirrendes Geräusch, als flöge etwas Schweres durch die Luft in seine Richtung. Im gleichen Moment ertönte ein dumpfes Poltern. Es kam vom Hauseingang her. Jemand rüttelte am Türknauf. Ein heftiges Klopfen. Dann eine Stimme. Unmittelbar vor ihm stieß jemand unterdrückt einen heiseren Wutschrei aus. Eine Gestalt rannte an ihm vorbei. Der harte Stoß, der ihn vor die Brust traf, warf ihn gegen die Türfüllung, dann stürzte er zu Boden.
Der Unbekannte sprang davon, Henri nahm ihn als rasendes, unförmiges Bündel aus Kleidung, Körper und Schweiß wahr. Der Eindringling kannte sich offenbar aus, lief über den Gang nach rechts und verschwand durch die Tür zum Hinterausgang. Holz klapperte, dann ein Klirren.
Wieder heftiges Klopfen am anderen Eingang. Dann rief jemand. Henri spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Jetzt erkannte er die Stimme, sie gehörte dem Sarazenen.
»Uthman!« Henri schrie es fast. Er lief über die Treppe, schob den Querbalken zurück und riss die Tür auf.
Der Sarazene blickte ihm beunruhigt entgegen. »Alles in Ordnung? Was ist mit dir?«
»Ich hatte Besuch!… Warte!«
Henri lief zur Hintertür und blickte über die Abgänge zur Flussseite hinunter. Er sah nur einen schnüffelnden Straßenköter. Als er zu Uthman zurückkehrte, fragte der:
»Unangenehmer Besuch?«
»Wenn du nicht im gleichen Moment gekommen wärst – ich weiß nicht, was geschehen wäre. Ich befürchte, sie sind mir bereits auf der Spur.«
»Dann lass uns verschwinden! Nimm alles mit, was dir gehört, lege das Logisgeld hin und hole dein Pferd aus dem Stall. Du kehrst nicht mehr hierhin zurück.«
Bruder Raimundus, dessen richtigen Namen niemand kannte, war ein eisgrauer Mann mit dem Bart eines hebräischen Propheten. Er starrte seine späten Besucher aus rot geäderten Augen an. Darin stand zu lesen, dass er jedes Problem des Lebens schon einmal durchdacht hatte – und dass es für nichts eine Lösung gab, außer man vertraute sich dem unergründlichen Ratschluss Gottes an. Er vollzog eine vage Geste, mit der er Henri und Uthman bedeutete, sie sollten Platz nehmen.
Henri verstand sich selbst nicht, aber es drängte ihn zu fragen:
»Verzeiht mir meine Neugierde – wer war die besagte Dame, die Euch damals verbotener Weise in ihr nächtliches Schlafgemach bat?«
Nicht im Geringsten überrascht antwortete Raimundus: »Es war die einzige Dame meines Herzens, bis zum heutigen Tag. Ihr könnt es daran ermessen, dass ich ihr bis in die Kirche hinein hinterher ritt, um sie zu besitzen und ihr zu imponieren. Das muss Euch genügen, Montseigneur.«
»Gewiss. Ich bitte noch einmal um Verzeihung für meine ungebührliche Aufdringlichkeit.«
»Nein, nein, schon gut, Montseigneur! Es geht nicht um ein pikantes Geheimnis oder um die Kompromittierung einer Dame. Denn das alles ist schon so unendlich lange her. Obwohl…«
Er brach ab, und ein leidender Zug trat in sein Gesicht, seine Augen wurden noch trüber. Henri war überrascht und schwieg, wie auch der Sarazene. Der Alchemist fuhr fort, als erzähle er eine Geschichte, die am Vortag geschehen wäre:
»Damit Ihr versteht. Sie sagte, ich solle gehen und wiederkommen, wenn ich das rettende Elixier gefunden hätte. Oder ob diese Aufgabe für meine Liebe zu schwer sei? Ja, genau so drückte sie das aus. Und ich kam wieder. Ich hatte es gefunden. Aber es war zu spät. Sie starb ein paar lächerliche Tage vor meiner Rückkehr…«
»Nun…«
»Ich weiß, das sind alte Geschichten. Aber in manchem Leben sind es gerade diese, eigentlich nebensächlichen Begebenheiten, die einen Menschen prägen. Nehmen wir einen Herrscher, der so mächtig ist, dass die Sonne in seinem Reich niemals untergeht, und in seiner Kindheit hat ihm ein Gefährte einen Murmelstein gestohlen und ihn damit aus den sichersten Gewissheiten seiner Gefühlswelt gerissen. Das ist seine tiefste Wunde, sein Leben lang. Wissen Sie etwas von solchen Wunden, meine Herren?«
»Darf ich offen sprechen, Senor Raimundus?«
»Bruder Raimundus. Ich bin kein Spanier, obwohl ich dort aufwuchs. Ich bin überall zu Hause.«
»Umso mehr werdet Ihr unser Ansinnen verstehen. Denn auch wir sind weltoffene Menschen.«
»Davon gibt es zu wenige. Ich wollte einst die Anhänger des Propheten Muhammad zu Christen bekehren und Gold herstellen, um damit einen neuen Kreuzzug zu bezahlen. Später verstand ich, dass wir von ihnen mehr lernen können als umgekehrt. Es gibt jedenfalls keine Rangfolge der Menschen.«
»Mein tief verehrter Freund Uthman ibn Umar, der Euch besser kennt als ich, verriet mir, dass Ihr Stoffe umwandeln könnt. Und dass Ihr Stoffe herstellen könnt, die keine Spuren hinterlassen.«
Bruder Raimundus blickte ihn offen an und nickte. »Ich bin Alchemist. Wir sind in Frankreich keine Verfolgten, im Gegensatz zu anderen Ländern.«
»Wenn ich Euch nun fragte, ob Ihr einen Stoff destillieren könntet, der tötet, was würdet Ihr darauf sagen?«