»Ein solches oder ähnliches Schicksal will Clemens also nicht erleiden, deshalb schlägt er sich gleich auf die Seite des Königs.«
»Und opfert bedenkenlos seine Brüder.«
Im Morgengrauen kamen sie in Montfaucon an, einem kleinen Ort, in dem sich rund um eine Kampfarena aus römischer Zeit freundliche, blumengeschmückte Häuser duckten.
Henri zog den Zettel aus dem Mantelsack, den Raimundus ihnen gegeben hatte. Sie fanden ohne Mühe die angegebene Anschrift. Als die beiden Männer davor hielten, erschraken sie zu Tode.
Das Gebäude aus grauem Gestein mit den winzigen, länglichen Fensterhöhlen war nichts anderes als der städtische Kerker.
5
Ende April 1314, Dies Irae
Man nannte die Frau nur »Die Hexe von Chalois«. Wie sie zu diesem Namen gekommen war, wusste sie allein.
An diesem Tag schrie sie. Wenn sie ihren ängstlichen oder auch rachsüchtigen Besuchern sonst immer mit ruhiger Grabesstimme die Wahrheit gesagt hatte, diesmal schien sie die Kontrolle über sich zu verlieren. Und sie schrie: »Es ist, als ob die christliche Welt für ihre Taten bei der Ermordung der Tempelherren büßen müsste! Den ganzen Frühling hat es hier geregnet, die Felder sind jetzt aufgeweicht. Ich sehe es ganz deutlich! Im Herbst werden die Ernten verrottet sein, das Vieh ertrinkt oder stirbt vor Hunger und unter seltsamen Krankheiten. Eine ungeheure Hungersnot wird ganz Europa heimsuchen, und mehr als ein Drittel der Menschen wird den Hungertod sterben! Vom Himmel fallen Feuer und giftige Dämpfe, danach breitet sich Dunkelheit vor den Augen und in den Herzen der Menschen aus.«
Ihr Besucher sagte streng: »Das solltest du nicht zu laut sagen, oder willst du auf dem Scheiterhaufen enden? Lass dir etwas anderes einfallen! Sag, die Tage des Gottesgerichtes waren ein Segen für alle, und die Menschen sind voller Hoffnung über die geschehenen Wunder! Was siehst du noch?«
»Ich sehe nur Dunkelheit, aber ich höre Worte der Vernichtung. Die brennenden Großmeister der Tempelherren haben zur Vesperstunde einen Fluch ausgestoßen, der sich erfüllen wird. Sie haben im Feuer, während sich ihr sterbender Blick über die königlichen Gärten und die Sainte Chapelle hinweg auf die Türme von Notre Dame richteten, die Pest auf König Philipp und alle seine Nachfahren herabgewünscht. Und auch auf den Heiligen Vater. Sie prophezeiten, dass sie Papst und König innerhalb Jahresfrist vor dem Richterstuhl Gottes wieder treffen würden…«
»Das ist keine Vorsehung, Hexe, alle haben es gehört!«
»Aber ich weiß, dass dieser Fluch sich erfüllen wird! Ich sehe es! Noch in diesem Jahr werden beide sterben. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Sei still, verdammte Hexe! Oder ich lasse dir die Augen ausstechen und die Lippen aus deinem ketzerischen Mund herausschneiden! Bist du ganz sicher, dass du von der Erfüllung dieses Fluches hörst?«
»Ich täusche mich niemals. Denn wisst Ihr nicht, dass Magie und Hexerei Wirklichkeit sind? Ich brauche keine Foltermethoden wie Ihr, Monsire, um die Wahrheiten des Lebens herauszufinden. Ich sehe und höre – das genügt. Ihr hingegen musstet die Tempelherren in Ketten legen, auf die Streckbank binden, ihnen Daumenschrauben anlegen, sie mussten hungern, wurden mit Gewichten behängt, bis die Gelenke auskugelten, Zähne und Fingernägel wurden einzeln herausgerissen, ihnen wurden die Knochen mit dem Keil gebrochen, die Füße im Feuer verbrannt. Das ergab Eure Art von Wahrheit! Sie hätten auch gestanden, Gott selbst erschlagen zu haben, wenn Ihr sie das gefragt hättet! Begreift Ihr nicht, wie untauglich solche Wahrheiten sind, Monsire?«
»Es ist nicht deine Aufgabe, darüber zu befinden, Hexe!«
Die alte Frau hob die Arme. »Ich maße es mir nicht an. Ihr habt mich befragt! Oder wart Ihr es nicht, der mich an diesem abgelegenen Ort aufgesucht hat – wie Ihr behauptet im Auftrag der königlichen Kanzlei von Paris?«
Der Besucher erhob sich und warf mit verächtlicher Miene ein Goldstück auf den Tisch. »Ich werde wiederkommen – um dich abzuholen.«
Als er schon hinausgegangen war, spuckte die Frau von Chalois ihm nach. »Bis ins dreizehnte Glied!«, murmelte sie. Von draußen hörte man die Geräusche sich entfernender Schritte. Erst dann stand sie auf und lüftete einen Vorhang, hinter dem jemand wartete.
»Er ist fort, kommt schnell, Kerkermeister«, sagte sie. »Beinahe hätte Euch der verdammte Spitzel gesehen. Seit sie die Templer jagen, ist hier keiner mehr sicher.«
»Ich weiß, wen sie suchen!«
»Und wen?«, fragte die Wahrsagerin gespielt harmlos, während sie in Wirklichkeit schier platzte.
»Besser, du weißt es nicht. Sie kamen jedenfalls im Morgengrauen zu mir – mit einer Empfehlung von Bruder Raimundus.« Der Kerkermeister Moreau lachte dröhnend. »Hättet sehen sollen, wie erschreckt die beiden darüber waren, wo sie sich befanden. Aber sie haben sich doch ein Herz gefasst, angeklopft und nachgefragt, hahaha! Ich habe die Empfehlung des Alchemisten, der früher oft hier war, als die anderen noch in Freiheit waren, natürlich sofort erkannt.«
»Sind es welche von diesen arroganten Ordensrittern, die sich um das einfache Volk nie geschert haben und in ihren Tempeln wer weiß was feierten?«
»Sage ich nicht.«
»Sind sie auf unserer Seite?«
»Es sind gute Männer!«
»Also, was wollt Ihr im Auftrag Eurer geheimnisvollen Besucher bei mir bestellen, Kerkermeister?«
»Ihr könnt doch Blauen Eisenhut destillieren, Hexe?«
»Aconitum napellus, das Glückskraut?« Die Frau wackelte mit dem Kopf. »Ihr wisst wohl, dass dieses akoniton töten kann?«
Der Kerkermeister winkte ab. »Sie brauchen es nur als Zusatz, um ein Rezept rot zu färben.«
»Ach? Na, dann…«
»Könnt Ihr es nun herstellen?«
»Bis wann braucht Ihr es denn?«
»Ich brauche es nicht. Meine Besucher benötigen es. Und zwar schnell.«
»Bis wann?«
»Bis gestern!« Moreau lachte wieder dröhnend und hielt sich seinen bebenden Wanst.
»Kommt morgen wieder.«
»Sie brauchen es schneller!«
»Satan noch mal! Ich muss das Kraut erst sammeln, oder denkt Er, es wächst mir aus den Ohren?! Wir haben noch Glück, denn der Hundsstern steht jetzt am Himmel. Ehe ich es ausgrabe, muss ich zuvor die Erde mit einem Opfer versöhnen, erst dann ist sie bereit, dem Roten Adam, wie ich es nenne, Weiße Jungfernerde herzugeben. Dann muss ich mit einem Eisen drei vollkommen ovale Kreise um die Pflanze ziehen und sie anschließend mit der linken Hand ausgraben. Wie das dauert! Und wenn währenddessen der Mond auch nur für wenige Momente hinter einer schwarzen Wolke verschwindet, dann ist alles umsonst! Also geduldet Euch gefälligst!«
»Wann morgen?«
»Um sieben Uhr in der Frühe. Und keinen Augenblick davor, verstanden?! Und dann arbeite ich schon die ganze Nacht daran und kann kein Auge zumachen…«
»Du machst sowieso nie ein Auge zu. Übrigens zahlen sie gut.«
»Also um sieben!«
Als Moreau zum städtischen Kerker zurückkehrte, der im Moment nur zwei »Insassen« beherbergte, sah er, wie ein Fremder auf dem weit genug entfernten Kirchhof eine Kutsche bestieg. Er trug hautenge, weiche Stiefel bis über die Oberschenkel und ein halb langes rotes Surkot als Rock, der aus einem teuren Stoff bestand. Das musste der Besucher der Hexe gewesen sein, von dem er nur die Stimme kannte. Die von vier schwarzen Rappen gezogene Kutsche setzte sich in Bewegung und fuhr rasch nach Süden in Richtung Avignon davon.