»Und – was sagen die antiken Schriftsteller?«
»Sie sagen, dass ein Arzt vor allem Fingerspitzengefühl haben muss. Und das bei allen Untersuchungen. Besonders aber bei Gehirnoperationen, die ihr Christen überhaupt nicht kennt. Wir wenden das Trepanieren regelmäßig an – in Europa führt es auf den Scheiterhaufen.«
»Köpfe zu öffnen ist eine Sünde! Es verstößt gegen den Plan der Schöpfung! Was Gott, der Herr, zusammengeführt hat, soll der Mensch nicht trennen!«
Uthman erklärte unbeeindruckt: »Es hilft aber. Besonders bei Splitterungen, wenn einer von einem Huftritt am Kopf getroffen oder von einem Steingeschoss verletzt worden ist. Was tut Ihr mit solchen Verletzten? Manchmal, wenn es um einen größeren Befall durch einen kranken Einfluss geht, muss der Schädel aufgesägt werden, manchmal, bei kleineren erkrankten Stellen, genügt ein Krontrepan, er macht ein kleines Loch.«
»Das ist barbarisch!«
»Nein, Herr Ritter. Aber entscheidend ist, alles muss sauber sein. Die Unwissenden in Eurem Land glauben, Schmutz halte die Krankheiten ab – das ist falsch.«
Der Papst fragte argwöhnisch: »Und der Kranke wird natürlich betäubt?«
»Womit denn?«, warf Ricard hämisch ein, »bei uns verteilen die Ärzte doch nur Kartoffelschnaps.«
»Herr Ritter, er muss Pflanzengift trinken. Es tötet ihn nicht, sondern lähmt ihn nur. Dann kann er sich weder bewegen, noch spürt er die Schmerzen beim Aufsägen oder Aufbohren der Schädeldecke. Ohne dieses Gift könnten unsere Ärzte ihre Arbeit nicht tun.«
»Woher bekommt Ihr es?«
»Wir bereiten es aus den einheimischen Ingredienzien selbst zu. Cannabis sativa besitzt vierhundert verschiedene Substanzen. Die hauptsächlichen stillen den Schmerz und wirken gegen die Fallsucht.«
Sie wurden unterbrochen durch den eintretenden Bediensteten. Er streckte einen silbernen Pokal vor sich hin, in dem das aufgelöste Heilmittel dampfte.
»Trinkt es, Herr Papst!«, sagte Uthman. Und als der Heilige Vater das tat, dachte der Sarazene: Es wird ihm tatsächlich helfen, denn er hat wahrscheinlich nur einen geröteten Magen. Und ganz hinten in seinem Verstand entstand ein Gedanke, der ihm sagte, wie schön es sei, zu helfen. Helfen, nicht töten! Was war das für eine wunderbare Aufgabe!
Aber dafür war er nicht hier! Dieser Mann hatte Hilfe nicht wirklich verdient, er musste sterben! Aber er, Uthman ibn Umar, beeilte sich in diesem Moment, ihm das Dasein zu erleichtern!
Uthman sah im Geist Henri de Roslin vor sich. Er wünschte nur eines nicht – dass dieser ihn jetzt sah. Was würde er von ihm denken? Würde er ihn für einen Verräter halten müssen? War er nicht in diesem Moment dabei, auf die Seite seiner Feinde überzuwechseln?
Aber eines konnte ja durchaus noch passieren. Die Leiden des Papstes konnten nach dem Trunk schlimmer werden. Er konnte zusammenbrechen. Sein Magen könnte sich öffnen und bluten. Dann würde er sterben.
Wenn das geschah, würde auch Uthman sterben. Er litte dann einen Tod, der schlimmer sein würde, als es sich jemand unter den Lebenden vorstellen konnte!
Henri hatte den ganzen Tag unruhig gewartet. Er zog sich zurück und benutzte die Gelegenheit, um seine Sachen in Ordnung zu bringen. Sein Pferd musste vom Schmied am Ortsrand neu beschlagen werden, und er ließ auch sein eigenes Schuhwerk von einem ansässigen Handwerker flicken. Er erstand auf einem kleinen Markt neue Gürtel und Spangen und einen Speckstein, mit dem er die Klinge seines Kurzschwertes nachzog.
Es war heiß. Feiner Staub legte sich über den Ort Saint-Laurent-des-Arbres. Obwohl es erst auf die letzten Tage des April zuging, schienen schon Feuer im Himmel zu brennen.
Als sich der Abend herabsenkte, stand Henri unschlüssig in der karg eingerichteten Stube ihrer Herberge. Er versuchte, sich vorzustellen, was Uthman gerade tat. Ob alles gut ging? Henri machte sich Vorwürfe. Hätte er die Tat nicht doch selbst durchführen müssen? Uthman hatte ihn beschwatzt. Sicher mit guten, vernünftigen Gründen, aber hätte er sich wirklich darauf einlassen dürfen?
In diesem Augenblick wäre Henri de Roslin am liebsten losgestürmt, um seinen Fehler zu berichtigen.
Um sich zu beruhigen, nahm er das kleine Buch mit den Ordensregeln aus der abgehalfterten Satteltasche. Er las darin, erinnerte sich voller Wehmut an seine Zeit im Tempel von Paris und schloss ein kurzes Gebet an. Seine Unruhe wuchs. Er lauschte nach draußen. Von unten her, aus der Gaststube, drangen undeutliche Geräusche, jemand lachte laut.
Henri packte seine Rittertracht aus. Er besah sie lange und nachdenklich. Dann zog er sie kurz entschlossen über. Den Leinenüberwurf, die Beinschienen, die Pumphosen, den weißen Rock mit roter Schärpe, darüber den weiten schneeweißen Umhang mit dem roten Tatzenkreuz auf Brust und Rücken und auf beiden Schultern. Er gürtete das Schwert. Zum Schluss stülpte er den scharnierlosen Helm auf das dichte dunkle Haar.
So stand er im Halbdunkel da. Ein Krieger, zu allem gerüstet und bereit, das Seine zu tun. Er wartete. Wenn es jetzt notwendig wurde, konnte er sich mit einem Tigersprung in den Tempelritter verwandeln, der für Ehre und Gerechtigkeit focht.
Was geschah in diesem Moment mit Uthman?
War der Gefährte in Gefahr?
Henri beherrschte sich mühsam. Aber er wusste jetzt, er hätte den Sarazenen nicht allein lassen dürfen.
Der Papst musste sich hinsetzen. Er beugte sich vornüber, als zerrissen ihn Schmerzen. Ein schmatzender Laut verließ seinen Mund. Dann richtete er sich wieder auf und sah den Sarazenen verwundert an. »So wohl«, sagte er, »habe ich mich nicht mehr gefühlt, seit ein gütiges Geschick mein linkes Bein wunderbarerweise vom Altersbrand befreite. Doch daran, das glaubt mir, waren meine Ärzte nicht schuld.«
»Es geht Euch besser, Herr Papst?«
»Ja, Sarazene. Ich muss Euch danken. Und glaubt mir, wäre dies nicht der Fall, würde ich Euch in diesem Moment den Folterknechten überantworten.«
»Ich weiß«, sagte Uthman, innerlich schaudernd. Und in Aufruhr, weil seine Kenntnisse seinem bittersten Feind nützten und weil sein eigentliches Vorhaben in immer weitere Ferne rückte.
Clemens blickte den Ritter Ricard an, der sich aufrichtig freute, und sagte: »Das feiern wir! Ich gebe unserem weit gereisten Gast zu Ehren heute Abend ein Essen. Und über Eure Taufe und Bekehrung sprechen wir noch. Ich denke, das hat Zeit. Ich spiele mit dem Gedanken, Euch in meiner Nähe zu halten – denn Eure Kenntnisse sind tatsächlich, wie Ihr selbst schon sagtet, der eigentliche Schatz!«
Uthman verneigte sich. »Ihr seid sehr gütig, Herr Papst!«
»Ricard, organisiere das Essen! Ich will alles nur vom Besten, verstehst du? Vergiss nicht die gesottenen Rotkehlchenzungen.«
»Wenn du das sagst, dann bist du wieder gesund, Clemens«, sagte Ricard. »Es ist ein Wunder!«
»Nun, Gott bewahre, wir wollen einen Sarazenen nicht als Wunder bezeichnen! Das könnte üble Folgen haben!«
Uthman wurde in ein Gemach gebracht, das nicht weit entfernt lag. Er fieberte dem Abend entgegen, an dem die Tat ausgeführt werden musste. Wie er jedoch aus der Burg entkommen sollte, das war ihm schleierhaft. Der Papst hatte ihm etwas geschenkt. Es war ein silberner Bisamapfel, in dem sich ein Abwehrmittel aus Kräutern befand. Gegen Ungläubige, hatte der Heilige Vater gemeint. Uthman band es sich um den Hals und dachte: So richte es sich gegen Euch selbst!
Der Abend kam.
Im Donjon der Burg des Herrn Guillaume Ricard hatten sich an die hundert Gäste eingefunden. Es war eine ungewöhnliche Ehre für Uthman, dass er neben dem Heiligen Vater sitzen durfte. Clemens wirkte munter, seine Gesichtsfarbe hatte sich aufgehellt, die Leibärzte steckten die Köpfe zusammen und konnten es nicht fassen. Als die Gänge mit silbernen Schalen aufgetragen wurden, griff ihr Herr mit gesundem Appetit zu. Der päpstliche Mundschenk spürte, wie sein Herz stillstand, sein Herr lehnte zum ersten Mal, seit er ihn kannte, das Procedere des Vorkostens, das Berühren aller Speisen mit kleinen Stücken von Brot und deren vorsichtigen Verzehr, ab! Der Sarazene musste ihn verhext haben!