Es war ihm gleich, ob jemand ihn im vollen Ornat der Tempelritter bemerkte. Er war wieder in Feindesland. Und sein Freund brauchte vielleicht Hilfe. Das ließ ihn alle Rücksichtnahme vergessen.
Uthman wurde auf den Sitz zurückgedrückt. Er sah in gerötete, feindselige Gesichter. Die päpstlichen Ärzte gaben bereits Anweisungen, wie mit der Giftprobe weiter zu verfahren sei.
Wieder beugten sich alle über die Schale mit dem rot funkelnden Wein. Verfärbte sich nicht der Haifischzahn in diesem Moment blutrot? Der Mundschenk zog ihn mit triumphierender Miene heraus, als Beweis, dass es niemals ohne seine prüfende, das Leben seines Herrn schützende Arbeit ging.
Dann steckte er den Zahn mit allen Anzeichen sichtbarer Enttäuschung wieder in die Silberschale zurück.
Uthman atmete auf. Aber er überlegte weiter fieberhaft, was er als Nächstes tun musste. Henri de Roslin – steh mir bei!
Die Zeit verging. Die Speisen wurden abgeräumt und aufgewärmt. Dann zog der Mundschenk den Haifischzahn heraus, untersuchte von allen Seiten, ob er sich verfärbt habe, und verkündete:
»Die Giftprobe ist beendet. Es gibt kein Gift in diesem Wein und damit auch nicht im Pulver des Sarazenen. Sein Pulver ist ungefährlich.«
Der Papst legte Uthman die Hand auf den Arm. »Ihr könnt gehen, wenn Ihr wollt. Aber ich bitte Euch – kommt wieder! Mit oder ohne Gold, das ist mir egal. Nur, bleibt mit den Kenntnissen Eurer arabischen Medizin in meiner Nähe!«
Uthman spürte die Kälte des Todes neben sich und erschauerte. Und während er leicht taumelnd aufstand, nahm der Papst die Silberschale in seine beiden Hände und trank mit großen Schlucken. Uthman ging wie im Traum zur Tür, die ihm geöffnet wurde. Hinter ihm entstand freudiger Lärm, und er vernahm noch die Stimme des Papstes, der rief:
»Mehr Wein und Wildbret! Alles mundet so wunderbar! Welch ein gesegneter Tag!«
Uthman passierte die Flure des Palas. Flügeltüren gingen auf und wurden hinter ihm zugeschlagen. Er bemühte sich, ganz langsam und würdevoll über die schweren Wollteppiche zu gehen. Er holte seine wenigen Sachen, ließ im Vorhof sein Pferd satteln, und als der Mond mit seiner waagerecht liegenden Sichel hinter einer schwarzen Wolke auftauchte, bestieg er sein Reittier und trabte polternd über das Kopfsteinpflaster zur Torhalle.
Dahinter lag das Fallgitter an der Zugbrücke. Es wurde erst direkt vor ihm mit einer Winde hochgezogen, als er hindurchritt, schwebten dicht über seinem Kopf einen Augenblick lang die spitzen, grässlichen Sparren des Gitters wie das aufgerissene Maul eines Wales.
Er drückte seinem braven Pferd die Hacken in die Weichen. Unmerklich ritt er immer schneller. Dann rief er aufmunternde Anfeuerungen, und nun preschte das Tier in wildem Galopp dahin, die Burg wie einen Spuk hinter sich lassend.
Und als er durch eine Senke kam, tauchte vor ihm urplötzlich eine schemenhafte Gestalt auf. War es ein Gespenst? Sein weißes Gewand leuchtete im Mondlicht. Jetzt sah Uthman die blutroten Tatzenkreuze. Noch nie war er über diesen Anblick so erfreut gewesen.
»Holla!«, hörte er rufen.
»Holla, mein Freund!«
»Berichte!«
»Es ist vollbracht! Er wird sterben. Keine Macht der Welt rettet ihn mehr.«
Henri de Roslin, in der vollen Tracht des kriegerischen Tempelherrn, kam an seine Seite. Sie ritten einen Moment Steigbügel an Steigbügel, und Uthman redete sich die Spannung von der Seele.
Henri legte ihm die Hand auf die Schulter. Dann sagte er mit seiner wohltönenden Baritonstimme: »Verschwinden wir von hier. Vor uns liegt noch ein weiter Weg. Wir müssen von nun an spurenlos sein wie dein Gift, denn sie werden uns gnadenlos jagen.«
Und dann preschten sie in einer Staubwolke davon, hinein in die dunkle Nacht mit allen ihren Gefahren und Geheimnissen, die sie nun niemals mehr verlassen würden. Ihre Pferde streckten sich im vollen Galopp.
Und die Staubwolke legte sich nur langsam wieder.
DRITTER TEIL
6
Ende Oktober 1314, vor Allerseelen
Der Frühling war dem Sommer gewichen, die Wärme des Sommers den Stürmen und Launen des Herbstes, nun ließen die ersten Fröste den Boden erstarren. Joshua ben Shimon blickte aus der Tür seiner flachen, mit Schilf des nah gelegenen Flusses Vesgre gedeckten Hütte auf die mit schmutzigem Weiß überzogenen Felder. Fest griff seine knochige, noch immer sonnenverbrannte Hand um den Brief, den er in den Morgenstunden geschrieben hatte. Es war der wichtigste Brief seines Lebens. Er richtete ihn an König Philipp den Schönen.
Joshua sah am Himmel das Unheil des kommenden Winters mit seinen Plagen. Seine kleine und hagere Gestalt schüttelte sich bei der Vorstellung von monatelanger Kälte, von Schneestürmen, von Wolfsrudeln, die rasend vor Hunger durch das Land ziehen würden, von Scharen schwarzer Kolkraben, die den Himmel verdunkelten, wenn sie auf der Suche nach dem letzten Vieh über die Anger und Weiler stoben. Joshua war aber gewitzt genug, sieh mit einem Gedanken an seine Bücher zu trösten. Schließlich besaß der Winter auch die Feuer, und die würden in Joshuas Kamin brennen, ihr Schein würde an jedem Abend die Seiten in den großen Folianten des universell belesenen Juden beleuchten. Und seine junge Bedienstete Mara würde ihm heiße, duftende Suppen bringen und mit sanfter, wohltönender Stimme mahnen, mehr zu essen.
»Joshua! Das Feuer geht aus!« Die krächzende Stimme aus den Tiefen der Hütte ließ den Juden erstarren.
Er lief in den Nebenraum. Hatte der Junge Recht und er es tatsächlich versäumt, auf den Kamin Acht zu geben! Der Knappe des Tempelritters saß mit der Flöte auf den Knien verträumt am Fenster, im Hintergrund flackerten matte, gelbe Flämmchen. »Nun, was plärrst du herum, Sean of Ardchatten!«, rief Joshua verärgert, »leg selber Hand an! Füttere ich dich etwa nur durch, weil du ein so begnadeter Künstler bist? Nun?«
»Aber Joshua, du kannst das besser. Ich muss an meine süße Guinivevre denken und träume dabei so viel, dass ich die richtige Menge verfehle. Ach, wie süß sie ist! Und so weit entfernt!« Der Knappe wollte die klappenlose Flöte an die Lippen setzen, dann zog er es vor zu singen. »Fein’s Liebchen mein, sollst in meinem Herzen beschlossen sein, niemals mehr ziehst du dort aus, es sei denn, man reiße das Herz mir aus…«
»Der Herr sei uns gnädig«, seufzte Joshua in komischer Verzweiflung. »Wenn die Welt von singenden Knappen und verliebten Minnesängern bevölkert wäre, würden wir zu Allerheiligen erkältet und zu Allerseelen erfroren sein.«
Sean of Ardchatten unterbrach sein Spiel und sagte listig: »Aber ihr Juden kennt doch diese christlichen Feiertage gar nicht, also könnt ihr an diesen auch nicht erfrieren!«
»Sei nicht schlau, Knappe! Spiele in Gottes Namen oder lege Buchenscheite nach, aber versuche nicht, einen rechtschaffenen jüdischen Gelehrten auf den Holzpfad zu führen!…«
»Auch Gott kennt ihr nicht – das weiß ich. Ihr kennt nur Jehova, und das ist der wichtigste Name unter insgesamt sieben, die ihr eurem Gott gebt…«
»Es ist der heiligste Name, Schlaumeier, und er heißt nicht Jehova, sondern Jahwe, aber das werdet ihr Christenmenschen nie begreifen, selbst wenn ihr euch mehr darum bemüht, als du es tust. Außerdem hüten wir uns, ihn auszusprechen, denn die Vorstellung vom Allerhöchsten ist unaussprechlich! Aber das werdet…«
»… ihr Christenmenschen nie begreifen…«
»Sehr richtig! Und nun leg Holz nach, oder ich benutze deine Flöte dazu, den Kamin wieder in Gang zu bringen!«