Sean of Ardchatten tat empört. »Das würdest du tun, Joshua? So barbarisch können Judenmenschen sein? Dann hat man euch wohl zu Recht verfolgt, und man hat euch zu Recht des Landes verwiesen…«
Joshua ben Shimons feines Gesicht mit den großen Augen darin wurde schlagartig ernst. »Sei still, Sean! Davon verstehst du nichts! Und davon redest du deshalb nicht! Diese Geschehnisse sind zu schwerwiegend, um darüber hinwegzuplaudern!«
»Ich weiß, es gab zu viel Leid, verzeihe! Nimm es als die allseits bekannte Gedankenlosigkeit der Jugend.«
»Das tue ich. Und nun zum Kamin!«
Während der Junge das Feuer schürte, dachte Joshua über dessen leichtfertige Worte nach. Hatte er Recht damit, dass es irgendeinen berechtigten Grund für den König gegeben hatte, die Juden aus Frankreich auszuweisen? Joshua schüttelte innerlich den Kopf. Nein! Es war pure Willkür gewesen! Die Gründe dafür waren ebenso konstruiert, wie sie bei der Verfolgung der Templer konstruiert worden waren.
Joshua wusste, dass es die aus Bauern und kleinen Bürgern rekrutierte Gens du Roi gewesen war, die alle französischen Juden an einem einzigen Tag, zur selben Stunde, verhaftet hatte. Und nach dem gleichen Schlachtplan hatten sie diesen Coup später gegen die Templer ausgeführt. Das schlagkräftige kleine Heer von Polizisten, über das die feudalen Adligen und auch die Tempelherren nur lachten, hatte sich trefflich bewährt. Und dies aus tiefer Liebe zu Philipp dem Schönen, der ihnen Ansehen und Einfluss verschaffte.
Joshua hob den Brief an seine Augen und überflog ihn noch einmal. Hatte er alles beachtet?
Wieder unterbrach Sean seine Gedanken. »Bist du eigentlich ein Rabbi, Joshua?«
Unwillig blickte der Jude auf. »Nein, wie kommst du darauf. Lass mich lesen.«
»Aber du achtest den Sabbat. Du besitzt diese Gebetsschnüre, diese ledernen Dinger da, die tefillin, und du legst dir beim Beten diese kleine Schachtel auf die Stirn, und…«
»… und ich versohle dir gleich den Allerwertesten! Dann erst wäre ich ein echter Rabbi, denn das tun Rabbis mit vorlauten Bengeln, die zu nichts nütze sind als herumzuschwatzen. Sei endlich still!«
»Entschuldige!« Sean setzte sich wieder ans Fenster und bedeckte die drei Grifflöcher seiner Flöte, spielte aber nicht darauf.
Joshua warf einen Blick auf die jetzt blau emporzüngelnden Flammen im Kamin, musste innerlich schmunzeln und vertiefte sich wieder in seinen Brief.
Da stand: »Herr König! Euer größtes Rätsel ist, ob es den legendären Ordensschatz der Templer wirklich gibt. Und Euer noch größeres Rätsel ist, wo er sich befindet. Ich kann über beide Rätsel Auskünfte geben. Ihr wisst natürlich, dass der Orden sehr reich war, denn er hatte gewaltigen Landbesitz im Abendland, aber auch im Heiligen Land. Schenkungen der Fürsten und Privatpersonen haben einträgliche Güter in ihren Besitz gebracht, aus deren Einkünften die Kosten des Kampfes im Heiligen Land bestritten wurden. Viel Geld war nötig, um es vor Ort zur Beschaffung der für den Kampf gegen die Heiden benötigten Dinge zu verwenden. In allen Komtureien des Ordens lagerten die Schätze. Und im Tempel von Paris war der größte Schatz aufbewahrt. Dort lagerte auch der königliche Schatz. Ihr wisst das am besten, denn als Ihr im Jahr des Herrn 1306 die Münzen wieder einmal abgewertet habt, vertrieb Euch das Volk, und Ihr musstet im Tempel von Paris Zuflucht nehmen. Dort zeigte Euch der Seneschall des Ordens die Schätze, erlesene Kunst aus zwei Welten, Geschenke der Sarazenen, Beutegut aus den Feldzügen und das Barvermögen. Zu Hunderttausenden gehäufte Pfunde aus Tours, Florenz und Venedig, den größten Niederlassungen, Gold aus Orient und Okzident. Wo sind alle diese Reichtümer geblieben?
Wisst Ihr es? Wenn nicht, kann ich es Euch sagen.
Woher ich es weiß? Das bleibt mein Geheimnis. Aber meine Kenntnisse von diesen Dingen gehen tief. Zum Beweis will ich Euch wissen lassen, dass ich auch von den damaligen Plänen Kenntnis habe, Euch, Herr König, zu ermorden, bevor Ihr die Templer verfolgen konntet. Zum Glück wurden die Verschwörer gefasst. Waren es nicht der Bruder des Ordens, Hugues de Chalon, Neffe des Visitators, und der Bruder Girardus de Monte Claro, Ritter des Ordens der Templersekte? Reicht das als Beweis meiner umfassenden Eingeweihtheit? Einen Hinweis auf den verschwundenen Templerschatz habe ich in der Aussage eines dienenden Bruders von Jean de Chalon entdeckt, der zur Zeit der Verhaftung der Templer Präzeptor des Templerhauses von Namur war. Ende Juni, im Jahre des Herrn 1308, befragte ihn die päpstliche Kommission in Poitiers als 46. Zeugen, und er gab an, dass einige der hochrangigen Ordensmitglieder schon vorzeitig von der drohenden Verhaftung erfahren hatten. Zu diesem Kreis gehörten seinen Angaben nach der Präzeptor von Frankreich, Gérard de Villiers, und auch der schon genannte Templer Hugues de Chalon, der sich mit dem gesamten Schatz des Bruders Hugues de Pairaud auf die Flucht machte.
Ihr seht, Herr König, ich weiß das alles. Woher? Ich weiß es eben, und es bleibt mein Geheimnis.
Aber wenn Ihr es wollt, werde ich es Euch verraten. Natürlich gegen einen bestimmten Preis. Aber hört weiter.
Euer Brief vom 14. September des Jahres 1307, mit dem Ihr, Herr König, den Haftbefehl gegen die Templer erließet, wurde Hugues bekannt, und er beschwerte sich beim Papst. Er warnte auch alle dienenden Brüder des Ordens vor Aussagen, die dem Tempel Schaden zufügen könnten. Etwa 30 Tempelritter benutzten das Wissen um die drohende Verhaftung sofort zur Flucht, und sie nahmen ihre Reichtümer mit sich. Einige wurden verhaftet und vom Großinquisitor schwer gefoltert, aber sie gaben das Versteck nicht preis. Auch der Schatz des Visitators von Frankreich, Hugues de Pairaud, verschwand mit unbekanntem Ziel. Ebenso alle in den Komtureien verstreuten Schätze und selbst die in Übersee gelagerten Reichtümer. Dafür war der tüchtige Schatzmeister Henri de Roslin verantwortlich. Ich nenne ihn tüchtig, obwohl Ihr, Herr König, für ihn sicherlich eine andere Bezeichnung bevorzugen werdet. Aber mir nötigt seine Leistung, ob ich will oder nicht, Respekt ab.
Meine Bedingung dafür, Euch alle diese verschwundenen Schätze auszuhändigen oder ihr Versteck lückenlos zu benennen, ist die folgende. Ihr, Herr König, müsst unverzüglich die Ansiedlung der Juden in Frankreich wieder zulassen. Was mit den Templern geschieht, ist mir gleichgültig, denn ich hasse sie ebenso wie Ihr. Aber die jüdischen Menschen müssen wieder in diesem herrlichen Land wohnen, beten und arbeiten dürfen. Zum Ruhme Jahwes und zum Ruhme des Königs von Frankreich!
Joshua ben Shimon, jüdischer Schriftgelehrter aus dem Heiligen Land.«
»Joshua! Wann endlich kommt mein Herr? Wann kommt Henri nach Hause? Und wird der Sarazene, dessen Schwert ich bewundere, bei ihm sein?«
»Natürlich, Knappe. Sie werden bald eintreffen. Ihr Irrweg durch das Land lässt keine genauen Vorhersagen darüber zu, wann wir sie endlich zu sehen bekommen, die Häscher des ermordeten Papstes lassen ihnen keine Ruhe. Aber sie werden kommen!«
»Ach wären sie doch schon hier! Es ist so langweilig, wenn man immer nur warten muss.«
»Hab Geduld!«
Mara kam herein und stellte zwei Teller Fischsuppe auf den Tisch. Joshua bewunderte einmal mehr ihre zauberhafte Stimme, mit der sie sagte: »Wenn Fischsuppe kalt wird, war alles Bemühen vergebens. Kalte Fischsuppe ist eine Sünde. Also langt tüchtig zu.« Dann ging sie wieder hinaus. Joshua sah ihr hinterher, sie ging geschmeidig wie eine Katze.
Sie aßen mit großem Appetit und tranken dazu Dünnbier. Und während Sean danach sofort wieder zu seiner Flöte griff und zwischendurch ein melancholisches Lied ertönen ließ, dessen Inhalt seine Guinivevre war, die in Beaumont von ihrer hartherzigen Mutter gefangen gehalten wurde, stiegen in Joshua bittere Gedanken auf. Sie befassten sich mit seinem Brief an den König. Und mit den Taten Philipps gegen die Juden. Er hatte ihnen übel mitgespielt.