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Mitte November 1314, Marientage

Der Tempel von Paris, der hinter mächtigen Mauern ein größeres Stadtgebiet einnahm als das neue Königsschloss, das zudem noch im schäbigen Umbau war, beherbergte auch die schönste Kirche der Stadt. Seine sieben stolzen Türme auf der anderen Seite der Seine waren einst dafür erbaut, bis an den Himmel zu stoßen. Und das taten sie immer noch, auch wenn jetzt die Besitzer gewechselt hatten.

Auf dem Gelände dieser imposanten Ordensresidenz, die nun den Johannitern gehörte, bewegten sich an diesem Abend mehrere verdächtige Gestalten. Aber da die Vermummten auf dem Weg zur Kirche zu sein schienen, um das neunte Marienfest des Jahres zu feiern, ließen die überall aufgestellten Wachen sie gewähren. Zudem hatte die Kälte an diesem Novemberabend so zugenommen, dass auch die Soldaten vollauf damit beschäftigt waren, sich warm zu halten. Sie blickten den weißen Wölkchen ihres Atems nach und träumten vom warmen Bett ihrer Frauen.

»Zur Ehre Unserer Lieben Frau von Jerusalem! Und zur Ehre der Kirche Sancta Maria Novae! Am Tag des Tempelganges der Gottesmutter!«

»Ich brauche solche christlichen Feste«, sagte eine der Gestalten, die der Ankündigung des Kirchenmannes lauschten, leise. »Ich bringe mich vielleicht in Todesgefahr damit, aber das Ritual ist mir lieb und teuer. Und vielleicht ist es die letzte heilige Messe, die ich erleben kann.«

»Gerade dieses Marienfest von der Erlösung der Gefangenen des 14. September ist mit unser beider Geschichte verbunden, Henri. Deshalb bedeutet es auch mir so viel – obwohl ich ein Ungläubiger bin.«

»Als unser Großmeister Jaques de Molay in den Flammen starb, war sein letzter Wunsch, dass er seinen Kopf über die königlichen Gärten hinweg in Richtung Notre Dame drehen konnte, um der Jungfrau Maria ins Angesicht sehen zu können.«

»Es ist euer schönstes Abbild.«

Henri de Roslin, kein anderer als er verbarg sich unter einer der braunen Mönchskutten, antwortete dem Sarazenen: »Es waren die Ordensgründer der Mercedarier, die sich dem Loskauf christlicher Gefangener aus den Händen von euch Sarazenen widmeten. Ich kannte viele von ihnen. Alle sind tot. Wie glücklich können wir sein, dass diese Zeiten der blutigen Schlachten im Heiligen Land vorbei sind und wir gemeinsam ihrer gedenken!«

»Wohl wahr!«, meinte der Dritte im Bunde, ein kleiner Mann. »Gefangenen zu helfen sollte überall wichtiger sein, als Kriege zu führen, auch wenn man sie gewinnt.«

»Davon habe ich keine Ahnung, Joshua«, ergänzte der vierte. »Als Knappe weiß man wirklich überhaupt nichts! Man darf nur Schuhe putzen! Wäre ich nur endlich erwachsen!«

Die Kirche erstrahlte im Glanz der Kerzen. Schon erschallten die Gesänge, unterbrochen von der mahnenden Stimme des Bischofs. Der Weihrauchkessel schwang an seinem langen Seil im Mittelgang über den Köpfen der Gläubigen hin und her. Murmelnde Gebete, Rufe, Bezichtigungen der Selbstanklage, der wärmende Mantel der jetzt einsetzenden Orgelklänge. Es war eines dieser späten Feste, die das Herz des Gläubigen mit Inbrunst und Licht erfüllten, und ihn aufrichteten.

»Es ist Wahnsinn, Uthman, hierher zurück zu kehren!«

»Nein, Joshua, niemand erwartet, dass der meistgesuchte Tempelherr des Landes sich ausgerechnet in der Mitte seiner Feinde aufhält.«

Henri murmelte: »Die Kirche ist nicht mein Feind. Sie ist der Wohnsitz meines höchsten Herrn. Nur die Kirchenfürsten sind es, die sich bereichern und dafür jedes Wort brechen.«

Die Messe nahm sie wieder gefangen. Sean of Ardchatten sang mit heller, melodischer Stimme, die aus seinem Stimmbruch wie ein aufflatternder schöner Vogel hervorgegangen war. Henri bedachte ihn mit einem liebevollen Seitenblick.

Die Ordensbrüder der Johanniter gaben im lang gestreckten Mittelschiff der mächtigen Rundkirche den Ton an. Ihre weißen Kutten, ihre gesenkten Köpfe mit der Tonsur, ihr demütiges Verhalten täuschten Henri nicht darüber hinweg, dass sie jetzt die neuen Herren des Tempels waren. Sie hatten das Templerkreuz überall von den Wänden abgeschlagen, ihre Steinmetze hatten dafür das Kreuz mit den vier goldenen Schwalbenschwänzen angebracht. Die Hospitaliter, die noch im Jahr 1291 die letzte christliche Bastion Akkon Seite an Seite mit ihnen gegen die sarazenische Übermacht verteidigt und die Kranken und Verletzten versorgt hatten, waren zu ihren einflussreichen Feinden geworden.

Während Henri der Messe immer andächtiger folgte und die schwarzen Perlen des Rosenkranzes durch die Finger laufen ließ, lauschte er den anrührenden Worten der Predigt.

»Du hast Maria aus allen Menschen erwählt und gesegnet vor allen Frauen. In ihr leuchtete auf die Morgenröte der Erlösung, sie hat uns Christus geboren, die Sonne der Gerechtigkeit!«

Was für schöne Worte, dachte Henri, wenn sich doch jeder bemühte, sie wahr werden zu lassen. Wie viel Gutes könnte die Christenheit den Menschen bringen!

»Jesu Geburt hat die Jungfräulichkeit der Mutter Maria nicht gemindert, sondern geheiligt!«

Ja, unsere leidensfähigen Frauen, dachte Henri weiter, sie machen erst das Leben erträglich.

»So feiern wir das Fest zum Gedächtnis der Schmerzen Marias!«

Henri spürte plötzlich fremde Blicke auf sich ruhen. Er untersagte es sich, den Kopf zu wenden. Konnte ihn jemand erkannt haben? Sein Bart war ja inzwischen so dicht wie der eines Assassinen und sein Haupthaar so lang wie das von Jesus Christus! Henri beschloss, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb.

Neben ihm wurde auch Joshua schon unruhig, und Uthman, der als Einziger nicht betete, gab einen fragenden Laut von sich. Auch sie hatten das unbestimmte Gefühl, dass jemand aus der Schar der Gläubigen heraus sie heimlich betrachtete.

Henri versuchte, aus den Augenwinkeln heraus etwas zu erkennen. Plötzlich hatte er das Gefühl, in eine Falle gegangen zu sein. Der erschreckende Gedanke nahm Besitz von ihm, alle Anwesenden in der Kirche seien Teil einer verräterischen Inszenierung der Marientage. Henri blieb für einen Moment das Herz stehen. Er ließ seine Blicke hastig durch das Kirchenschiff wandern. Musik, Gesänge, Gebete.

Henri schalt sich einen Narren. Es war Einbildung! Er atmete ruhiger und versuchte, etwas zu erkennen. Er tat so, als sei ihm der Rosenkranz entglitten, und wendete sich beim Bücken mit einem Ruck nach rechts. Da sah er den heimlichen Beobachter.

Nein, es war kein Einzelner, es waren mehrere! Überall saßen sie und starrten zu ihm herüber! Sie hatten nur Augen für ihn!

Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen, er war in ihre Falle gegangen!

Erst langsam begriff er, dass die Augenpaare, die ihn anblickten, nur herausfinden wollten, warum einer in der selbstvergessen betenden Menge sich plötzlich so auffällig bewegte und damit die gehorsamen Reihen der streng angeordneten Körper durchbrach. Denn es war ja so, als säße in dem Kirchenraum nur ein einziger, atmender, betender Körper, gebildet aus tausend Leibern, und diese Ordnung war plötzlich gestört.

»Was ist?«, zischte Uthman.

»Ich glaube, ein Mönch beobachtet uns. Ich kenne ihn nicht. Lassen wir uns nichts anmerken.«

»Wo sitzt er?«

»Zur Rechten. In der Verlängerung unserer Sitzreihe. Aber schau nicht hinüber.«

Henri überlegte. Hatte er diesen Mönch nicht doch schon irgendwo gesehen? Und dann dachte er: Wenn ich mir die Mönchskutte wegdenke und wenn ein Bartflaum dieses gebräunte Gesicht mit den kantigen Formen verzieren würde! Er schaute verstohlen noch einmal hinüber. Die Reihen der Betenden waren inzwischen wieder ausgerichtet, um das Wort des Herrn in sich einsickern zu lassen. Aber der fremde Beobachter blickte ihn in diesem Augenblick wieder an. Und er lächelte.