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Da fiel es Henri wie Schuppen von den Augen. Ja, er kannte den Mann! Und es war kein Mönch! Er war ihm damals begegnet, als man den Großpräzeptor der Normandie verhaftete. Sie hatten es gegen die überwältigende Übermacht nicht verhindern können. Es war kein Geringerer als der Tempelritter Jacques de Charleroi! Der Lothringer hatte also die Verfolgung überlebt!

Von jetzt an fieberte Henri dem Ende der Messe entgegen. Er konnte sich nur noch zwingen, aufmerksam zu bleiben. Was machte der Ritter Jacques in der Kirche des verfemten Tempels? Plante er vielleicht etwas Ähnliches wie er selbst? Henri schüttelte innerlich den Kopf. Das war kaum möglich. Und doch…

Als die Messe zu Ende war und sich alle erhoben, flüsterte Henri seinen Freunden zu: »Wir treffen uns draußen vor dem Eingang!« Dann ging er durch die Reihen zu seinem Tempelbruder. Er fragte einfach: »Bist du es wirklich?« Und der andere nickte stumm. »Komm mit uns, meine Freunde warten schon.« Wieder nickte der andere.

Draußen war es noch kälter geworden. Die Dunkelheit brachte nun auch noch einen heftigen Wind von der Seine mit sich. Die Männer froren jämmerlich.

Henri machte seinen Tempelbruder mit den anderen bekannt. Jacques, der aus dem gleichen Grund wie Henri die Messe gehört hatte, nahm nach kurzer Überlegung seine Einladung an, gemeinsam nach Gambais zurückzureiten. Sie gaben sich die Hand. Dann machten sich die vier Männer schweigend auf den Weg.

Ihre Pferde standen im Schutz der hoch aufragenden Tempelmauern, an ein Gatter gebunden, das ehemals grüne Gartenrabatte umschloss. Während die Johanniter im Inneren der Burg verschwanden und Henri einen letzten bitteren Blick auf den Tempel warf, der ihm jahrelang eine Heimat gewesen war, lenkten seine Gefährten schon die Reittiere nach Süden.

Sie trabten über eine der beiden Seinebrücken nach Westen, vorbei an den schwerbewaffneten Soldaten, die jedoch auch jetzt niemanden anhielten und von einem Bein auf das andere sprangen. Sie bogen jenseits des Mauerringes, der die Insel umgab, nach Süden ab und folgten eine Zeit lang dem Strom von Pferden und Karren. Als der Strom hinter der Stadtgrenze versiegte, ritten sie im gestreckten Galopp weiter. Hinter ihnen versank Paris.

Sie erreichten Joshuas Haus zwei Stunden später.

Der Mond kam hinter Wolken hervor und beleuchtete den Wald und die Senke, in der die Behausung lag. Drinnen flackerte das Kaminfeuer. Mara kam und legte Holzscheite nach. Es duftete nach Ysop und Minze, das Mädchen hatte einen heißen Tee parat.

Henri war froh, einen Bruder aus dem zerschlagenen Orden in ihrer Mitte zu haben. Jetzt, wo sie in Sicherheit waren, umarmte er Jacques de Charleroi herzlich. Sie setzten sich im Halbkreis an den Kamin. Gespannt folgten die Männer den Worten des Lothringers, mit denen er von seinen letzten Wegen berichtete.

»Es geht mir wie dir, Bruder Henri, wie uns allen, ich habe die Zerschlagung unseres Tempels wie im Traum erlebt. Eigentlich kann ich es noch immer nicht fassen. Wir waren so überheblich in unserem Gefühl, uns könne nichts passieren! Was war das für ein furchtbares Erwachen!«

»Wo hast du dich in den letzten Jahren, nachdem du aus Aleppo abgereist bist, versteckt gehalten?«

»Ich ging erst nach Iberien, dann nach Portugal. Dort sind wir auch verboten worden, aber König Diniz ermöglichte es, dass wir uns nicht auflösen mussten, und man verfolgt uns nicht. Allerdings besitzen wir nichts mehr. Unsere Reichtümer und Besitzungen wurden konfisziert, sie sollen an den Christusorden übergehen, der neu gegründet wird. Castro Marim wird sein Hauptsitz, es liegt unweit des Mittelmeeres am Rio Guadiana, dort, wo sich Iberien und Portugal die Hand geben.«

»Was konntest du tun, um zu überleben?«

»Es gibt im Süden des Landes bei Lagos einen unscheinbaren Ort namens Raposeira. Dort befindet sich die Kapelle Nossa Senhora de Guadaloupe. Sie wurde von christlichen Rittern nach der Vertreibung der Mauren aus der Algarve für Maria gebaut. Ich durfte als Steinmetz die Kapellenwände verschönern, ich hatte mir die Kenntnisse selbst beigebracht. Es war wunderbar, die Lebensrosetten des Heiligen Grals und unser altes Symbol des Doppelreiters, der die alte und die neue Ordnung verkörpert, anzubringen – ein Stück Heimat. Wenn die mächtige Burg in Castro Marim, vor der die Feinde zittern werden, fertig ist, soll ich sie schmücken. Viel mehr erwarte ich, offen gestanden, nicht mehr vom Leben.«

»Du wirst zurückgehen?«

»Unbedingt! Kommt mit! Es ist viel zu gefährlich in Frankreich! Und die Algarve ist schön.«

»Die meisten Templer sind tot, der Rest wird gejagt, das ist wahr. Wir haben noch eine Rechnung offen.«

»Wie man hört, ist sogar der Papst vor Gram darüber schließlich gestorben.«

»Es war nicht der Gram, an dem Clemens starb, Bruder. Wir haben nachgeholfen!«

»Ihr habt…«

»Unser Freund Uthman tat es. Aber die Verlautbarungen sprechen von seiner Krankheit und dass er wegen seines Schuldgefühls nicht mehr leben wollte. Es soll uns recht sein.«

»Es ist unfassbar! Und jetzt verstehe ich auch, weshalb du dich hier aufhältst, Henri! In der Nähe von Paris, in der Nähe von Fontainebleau! Du wartest geduldig wie eine Raubkatze auf Philipp, du willst auch den König zur Rechenschaft ziehen!«

»In der Kirche vorhin dachte ich dasselbe von dir.«

»Nein. Ich wollte einfach nur zurück an den Ort, der uns so viel bedeutet. Und insgeheim hoffte ich, in Paris etwas von dem Gold zu finden, das wir in den düsteren Jahren hier versteckten.«

»Du benötigst Geld? Wir haben genug. Du kannst es haben.«

»Du hast den Schatz tatsächlich, wie man munkelt, in Sicherheit bringen können?«

»Nicht alles. Aber den größten Teil. Leider wird in den nächsten Tagen der Jude alles dem König verraten!«

Joshua lachte. Er lachte noch lauter, als er die verdutzte Miene des Tempelritters aus Lothringen bemerkte. »Ganz so ist es nicht geplant. Aber wir erwecken den Anschein.«

»Könnt Ihr etwas genauer werden?«

Henri sagte: »Wir besorgen uns morgen in der Frühe die Antwort des Königs auf ein Angebot, das er sicher annehmen wird. Es ist der Beginn einer gefährlichen Zeit. Aber an ihrem Ende wird der Tod Philipps stehen.«

»Ihr seht mich gespannt. Also erzählt!«

»Wir wollen es so machen…«

Der Morgen war klar und womöglich noch kälter als der Abend zuvor. Aber der erste Schnee ließ noch auf sich warten, am eisblauen, flachen Himmel standen keine Wolken.

Der Wind pfiff über die ausgedehnte Ebene von Rambouillet. Ein einsamer Reiter trabte über die Wiesen und abgeernteten Felder, auf denen schon erster Raureif lag. Holzpflüge mit ihren großen Rädern lagen unbenutzt am Rand der Äcker, in manchem hölzernen Streichbrett hatten sich Wintervögel ein Nest gebaut. Die eingesunkene Gestalt des Reiters unter dem Schafsfell machte den Eindruck, als schliefe er. Aber in Wirklichkeit war Joshua ben Shimon wach wie vielleicht noch niemals in seinem Leben.

Langsam näherte er sich von Südosten her dem Ort, an dem sich ihrer aller unmittelbare Zukunft entscheiden würde. Es war der Weiler Sonchamp, hier befand sich die Täubnerei. Joshua war angespannt. Es juckte ihn am ganzen Körper. Die raue Wolle seiner hohen Beinkleider und seines Rocks mit der Kapuze wärmte ihn zwar, rieb jedoch unangenehm auf seinem dürren Körper. Er wollte indes nicht anhalten und sich kratzen.

Immer wieder dachte er: Was wird geschehen, wenn ich Sonchamp erreiche? War unser Verwirrspiel ausreichend genug? Lauern sie dort auf mich?

Joshua beruhigte seine angespannten Nerven mit dem Gedanken, dass sich Henri de Roslin und Uthman ibn Umar von Südwesten her, verdeckt durch die dortigen Ahornwälder, dem Weiler näherten. Auch der Lothringer hatte sich ihnen angeschlossen. Sie waren die Leibwache, falls die Männer des Königs den Weg des Antwortbriefes doch hatten verfolgen können.