Henri begriff, wie schädlich es gewesen war, den Templern keine eigenen Entscheidungen zugestanden zu haben. Ohne Anführer wirkten sie völlig kraftlos. »Die meisten Gefangenen liegen im königlichen Kerker, ein paar in unserem eigenen Verlies des Tempels. Diese wenigstens sollten wir zu befreien versuchen, denn wir kennen uns in den Gemäuern aus. Es wäre ein erster Schritt und ein Fanal. Was meint ihr?«
Die anderen nickten düster. Zu mehr Zustimmung war keiner in der Lage.
»Ich werde es selbst versuchen. Obwohl die Gefahr, dass mich jemand erkennt, natürlich groß ist. Aber es wird mir gelingen. Wer begleitet mich? Ich benötige zwei unerschrockene Männer!«
Sie meldeten sich alle. Henri wählte den jungen, geschmeidigen Rymer und Harduin, den erfahrenen Bretonen, aus. Sie mussten ein kleiner, effektiver Spähtrupp sein.
»Ich werde zunächst erkunden, mit welchen Wachmannschaften und mit wie vielen wir es zu tun haben. Sobald es eine Möglichkeit gibt, in den Tempel hineinzukommen, müssen wir es wagen. Die Zeit läuft uns davon.«
»Es ist unmöglich, aus den Verliesen des Tempels jemanden zu befreien! Das wissen wir doch!«
»Wir versuchen es. Ich kenne eine geheime Ausfallpforte, von der nicht einmal die Hospitaliter etwas wissen dürften. Sie ist nur durch das Berühren von zwei verdeckten Mauersteinen zu öffnen. Gesegnet seien die Steinmetze!«
»Ihr kommt hinein, aber niemals wieder heraus! Schon gar nicht mit allen Gefangenen!«
»Und wenn wir den gefangenen Brüdern nur Mut zusprechen, ihnen zeigen, dass es noch aufrechte Brüder in Freiheit gibt, ist auch schon etwas gewonnen.«
»Was können wir anderen in der Zwischenzeit tun?«
»Jeder muss Augen und Ohren offen halten. Die kleinste Information kann uns helfen. Auch über eventuelle Gefangenentransporte und Verlegungen in andere Kerker der Stadt brauchen wir Informationen. Alles ist wichtig.«
»Wann treffen wir wieder zusammen?«
»In drei Tagen. Zur gleichen Zeit, an dieser Stelle. Und nun Gott mit euch auf allen euren Wegen!«
»Gott mir dir, Bruder Henri!«
Die folgenden drei Tage waren für Henri de Roslin die schwersten seines bisherigen Lebens.
Er umkreiste den Tempelbezirk wie ein waidwundes Tier. Henri stellte sich das Leiden der Gefährten in den Kerkern vor und versuchte verzweifelt, einen Weg zu ihnen zu finden. Der Tempel, aus dem nun alle Brüder des Ordens vertrieben worden und die neuen Herren noch nicht eingezogen waren, wirkte gespenstisch leer wie eine Totengruft. Aber am nächsten Tag gab es einen Fingerzeig Gottes.
Ein Mann, dem er einst einen Gefallen getan hatte, als er seinen unglücklichen dreizehnjährigen Sohn aus dem Tempel entließ, was sonst niemals möglich war, lief ihm über den Weg. Der Mann hieß Trigeau und war Lieferant der neuen Tempelherren, die ihren Umzug dorthin vorbereiteten. Er erzählte ihm von einem Verwandten, der als Schließer eingesetzt worden war. Natürlich hatten die Hospitaliter alle Posten mit in ihren Augen zuverlässigen Bediensteten ausgetauscht. Aber an den Schließer war heranzukommen, wenn man ihn nur tüchtig schmierte.
»Allerdings ist er ein ehrgeiziger Wachmann… nun, er ist auch ein Säufer und deshalb unzuverlässig«, sagte Trigeau.
»Was muss ich tun?«
»Ihr müsst ihm Aussicht auf viel Geld und Schnaps machen, damit er sich traut, Euch irgendwie hineinzulassen.«
»Daran mangelt es nicht. Versucht, das mit ihm zu besprechen! Oder noch besser, führt ihn zu mir!«
»Und was habe ich davon?«
»Was immer Ihr wollt! Aber denkt daran, zu Reichtum kommt Ihr nur ohne Verrat!«
In der Nacht des zweiten Tages traf sich Henri am Seineufer mit dem Tempellieferanten, der seinen Cousin mitbrachte. Henri erblickte einen finsteren Gesellen mit Pusteln im geröteten Gesicht.
Er wusste sofort, dass es gefährlich war, sich mit ihm einzulassen. Aber gab es einen anderen Weg?
»Was ist für mich drin?«, fragte der Geselle.
»Jeden Tag zehn Livres – dein Leben lang. Du hast ausgesorgt.«
Der Schließer bekam funkelnde Augen. Seine Lippen verzerrten sich zu einer Art Lächeln. »Ihr sollt in den Knäueln von Maden verenden, Herr, wenn Ihr mich anlügt!«
»Kerl! Hier, die Anzahlung!«
Henri gab dem Schließer die versprochene Münze, und der andere starrte darauf wie auf eine Erscheinung. Er wog das Geldstück in der Hand. »Zehn ganze Livres, Sakrament noch mal! Dafür arbeite ich sonst den ganzen Monat!«
»Also – was kannst du für uns herausbekommen? Ich muss wissen, wie viel Gefangene es gibt, ich brauche ungehinderten Zugang und einen sicheren Fluchtweg. Und das möglichst bald. Kannst du das bewerkstelligen?«
Die Gier in den Augen des Schließers war stärker als seine Angst. Er sagte: »Ich werde sehen. Aber wenn die Flucht gelingt, kann ich natürlich nicht im Tempel bleiben. Dann verlange ich die ganze Summe auf einen Schlag.«
»Du bekommst zehntausend Livres auf die Hand in dem Moment, wo die Gefangenen das Licht der Freiheit wieder sehen!«
»Zwanzigtausend!«
»Verdiene dir zehntausend. Dann sehen wir weiter. Und auch dir sei gesagt, dass Verrat nichts anderes einbringt als den Tod. Was auch immer die andere Seite dir geben würde, ich kann dir mehr bieten. Hast du verstanden?«
»Ja, Herr, ganz gewiss, Herr!«
Der Cousin des Schließers zog diesen am Ärmel mit sich. Und Henri stand noch eine Weile am Ufer und blickte nachdenklich auf das Wasser.
Am anderen Ufer blinkten die Fackeln und Leuchtfeuer herüber. Und als er sich vorbeugte und nach Norden sah, erblickte er die Umrisse der Seineinsel und darauf die düsteren Türme des Tempels. Als in diesem Augenblick die Wolkendecke des Nachthimmels aufriss und der Mond herauskam, schien es Henri, als formten sich die Spitzen der Türme zu einer Schwurhand. Ja, dachte er, ich schwöre, dass ich versuchen werde, die Brüder zu retten. Und koste es mein eigenes Leben!
Etliche Tage vergingen. Henri und seine beiden Gefährten trafen sich an jedem Abend zur selben Zeit mit Trigeau, dem Lieferanten des Tempels. Der schüttelte aber jedes Mal nur den Kopf und zog mit den Livres für seinen Cousin wieder ab. Henri konnte seine Ungeduld kaum noch bändigen.
Die Templer in Freiheit zerstreuten sich getarnt über die Stadt und versuchten eifrig, Informationen zu sammeln. Das war schwierig genug, denn Paris wimmelte von Spitzeln des Königs. Und auch die Dominikaner gaben sich alle Mühe, ihrem Auftrag gerecht zu werden, der da lautete, Verdächtige, oder auch nur solche, die halb verdächtig waren, einzusammeln.
Nach einer Woche gab es plötzlich Neuigkeiten.
Trigeau wirkte völlig aufgelöst. »Heute Nacht könnt ihr hinein – wenn ihr tatsächlich den Mut dafür aufbringt. Die Wachen werden ausgetauscht, mein Cousin ist bis zum Morgengrauen alleiniger Schlüsselmeister. Aber an eine Flucht ist nicht zu denken, das hat er mir gleich erzählt. Den Gefangenen geht es viel zu schlecht.«
»Wann kann ich es wagen?«
»Kommt gleich mit. Um Mitternacht wird mein Cousin euch einlassen.«
Henri war überrascht von der plötzlichen Eile – und misstrauisch. Aber er hatte keine Wahl.
Zur fraglichen Stunde huschte er an der Seite seines Gewährsmannes und seiner beiden Gefährten durch den Tempelbezirk. An der Tür erwartete sie ein Unbekannter. Er bedeutete ihnen, einzutreten.
Henri ließ den jungen Rymer und Harduin an der Pforte als Wachen zurück.
Er kannte den Weg zu den Verliesen. Es ging schmale Steintreppen hinunter, durch einen Gang, über eine weitere Treppe. In einem Gewölbe saß der Cousin des Lieferanten an einem wackligen Tisch, eine Fackel erleuchtete die Gemäuer. Er winkte Henri verschwörerisch zu.
Als sich die niedrige Tür des Verlieses öffnete, atmete Henri den Gestank ein. Im Dämmerlicht erblickte er etwa zwanzig Gestalten, die an den Wänden saßen. Auf den ersten Blick war ihm klar, dass sie schwer gefoltert worden waren.