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»Brüder, ich bin Henri de Roslin! Hört ihr mich?«

Bewegung entstand, sie krochen näher. Henri war erleichtert darüber, dass sie nicht angekettet waren. Er sah in gebrochene Augen, graue Gesichter, auf blutige Leiber in zerfetzter Kleidung. Was für ein jämmerlicher Anblick!

Henri erkannte den stellvertretenden Schatzmeister des Pariser Tempels. »Bruder Henri«, sagte er erleichtert, »so hast du dich retten können! Aber unseren Schatz finden sie nicht!«

»Guilherme de Pidoye! Ich werde mich um unseren Besitz kümmern, das verspreche ich! Aber jetzt geht es um euer aller Leben!«

»Zu spät, Bruder Henri!«

»Ich werde euch hier herausholen, Brüder! Nicht heute, aber bald. Ich kenne einen geheimen Fluchtweg. Sagt mir, wie es euch geht? Könnt ihr aufstehen und gehen?«

Ein Murmeln war die Antwort. Einer, den Henri aus der Komturei in Orleans flüchtig kannte, sagte: »Wir können nur noch eins tun, Bruder Henri – sterben! Aber wer erteilt uns die Sakramente?«

»Ihr werdet nicht sterben!«, sagte Henri verzweifelt. »Ihr werdet leben! Es gibt so viel zu tun da draußen! Man wartet auf euch!«

»Nein, nein, unmöglich! Einige überleben die nächsten Tage nicht mehr.«

»Dann müsst ihr sofort fliehen!«

»Bruder, kannst du uns einen Priester kommen lassen, das ist alles, was wir noch wünschen.«

Henri sagte: »Ihr wisst, unsere Regel sagt, sobald vier oder mehr Brüder zusammenkommen, können wir Mönchskapitel abhalten und einen Beichtvater bestimmen. Ich kann euch also die Beichte abnehmen und Buße für Verfehlungen aussprechen – aber Letzteres wird wohl nicht nötig sein.«

»Dann bei Gott, tut das, Bruder Henri! Und dann lasst uns sterben!«

Henri hätte schreien können. Aber er beherrschte sich und fragte: »Was um Himmels willen haben sie euch angetan, dass Tempelritter so gebrochen sind!«

»Willst du unsere Wunden sehen, Bruder? Viele haben gebrochene Gliedmaßen, ich selbst ein ausgerenktes Knie! Etlichen sind tiefe Schnitte beigebracht worden, und dem jüngsten Bruder Giaco dort hinten, dem Knappen unseres Großmeisters, hat man die Augen ausgestochen.«

»Bei Gott, sie laden eine schwere Schuld auf sich!«

»Man streckt uns, man hängt uns an den Armen auf, die auf den Rücken gebunden werden, man beschwert unsere Männlichkeit mit Gewichten, bis sie reißt, man schlägt uns, bis wir ohnmächtig werden, dann legt man uns in glühend heiße Eisenkäfige. Das alles ist schlimm genug. Aber das Schlimmste ist das Warten auf die Folter, denn sie können jede Minute kommen und dich holen, und du weißt nicht, was sie dann tun. Es ist schlimmer als in den Kerkern der Ungläubigen, als wir den Feinden mit gottgefälligem Hass gegenübertreten konnten. Denn unsere Folterer sind ja Christen! Es sind unsere eigenen Leute! Und sie behaupten, wir seien es, die Verrat am richtigen Glauben geübt hätten!«

»Kann ich eure Qual wirklich erleichtern, wenn ich euch die Beichte abnehme, Brüder? Dann lasst uns das tun.«

»Aber das dürfen nur unsere Präzeptoren«, jammerte einer mit erstickter Stimme.

»Unsere Präzeptoren liegen im Kerker, Bruder.«

»Wie verhält sich um Gottes willen der Heilige Vater zu diesem Unrecht?«

»Clemens schickt Kollektoren durch Teutschland, die von allen kirchlichen Einkünften einen Zehnten zur Eroberung des Heiligen Landes erheben sollen. Damit ist er ausgelastet. An uns denkt er nicht. Öffentlich die Verantwortung für die Maßnahmen des Königs abzulehnen, wagt er nicht. Zwar wirft er Philipp intern vor, sich des Ungehorsams schuldig gemacht zu haben, indem er sich des Tempels bemächtigte, der allein dem Heiligen Stuhl untersteht. Und er hat auch eine Bulle geschrieben. Aber da die Inquisition die Verfolgung ungehindert durchführt, ist klar, dass wir nicht auf den Papst zählen können. Er zieht sich aufs Land zurück, in Poitiers, wo er zurzeit weilt, erreichen ihn keine unangenehmen Nachrichten. Nein, Clemens hat uns im Stich gelassen, meine Brüder. Imbert und der König sind stärker.«

Die Gefangenen beichteten endlich. Jeder sprach oder flüsterte zu Henri, und der hörte mit geschlossenen Augen zu. In seinem Gram bereitete es ihm Mühe, anschließend die Absolution zu erteilen. Er nahm die gefalteten Hände jedes Bruders, besonders warmherzig von denen, die nicht mehr sprechen, sondern nur noch stöhnen konnten, in seine eigenen Hände und sagte: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes spreche ich dich frei. Tröstet euch mit dem Aufsagen der Paternoster, Brüder! Haltet am Glauben fest, denn Gott liebt uns und nicht unsere Feinde!«

»Und vergib auch den Schuldigen«, betete ein alter Templer mit fester Stimme.

»Nein, nein, nein!«, rief Henri aus. »Mein ist die Rache, spricht der Herr! Und er hat sie mir übertragen! Ich werde niemals verzeihen und jeden Blutstropfen mit einem anderen Blut aufwiegen! Davon werden kein Erzbischof, kein Prälat, kein Bischof und kein falscher Mönch ausgenommen sein. Und auch nicht Papst und König. Das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe!«

In diesem Augenblick erschien auf der Empore der Schließer. »Ihr müsst jetzt verschwinden. Bald kommen andere Wachen. Und auch der Generalinquisitor hat sich im Morgengrauen angekündigt.«

Bei diesen Worten ging ein Stöhnen durch die dunklen Reihen der Gefangenen.

Im Hinausgehen warf Henri noch einen letzten Blick auf die Unglücklichen. Sie starrten ihm mit hoffnungslosen Gesichtern nach. In keines Bruders Augen war ein Glanz zu lesen, Henri sah nur Verzweiflung und Trostlosigkeit.

»Mein Geld«, flüsterte der Schließer.

Henri hätte ihn totschlagen können. Aber er legte dem Mann mehrere Münzen in die kalte Hand. »Du bekommst alles von mir, wenn sie frei sind«, sagte er.

Als er sich zum Gehen wendete, schlug hinter ihm die Kerkertür krachend ins Schloss. Henri schwor sich, keinen einzigen seiner hinfälligen Brüder im Stich zu lassen.

Er wusste in diesem Moment nicht, dass er den Tempel nie mehr betreten sollte.

10 

Dezember 1314, Zeit der unschuldigen Kinder

Lasset die Kinder zu mir kommen, hatte Jesu gesagt. Aber als König Herodes von den Weisen aus dem Osten hörte, ein gefährlicher Anwärter auf den Thron sei geboren, befahl er, alle Jungen unter zwei Jahren in Bethlehem zu töten. Diese Begebenheit fiel dem Ordensritter Jacques de Charleroi ein, als er im Wald von Bière und Saint-Maxence weilte und auf den Ausgang der königlichen Jagd wartete.

Ritter Jacques wartete schon den zweiten Tag. In der Nacht hatte er unweit des königlichen Zeltlagers in einen Bärenpelz gehüllt im Stehen geschlafen. Jetzt hörte er in der Ferne das Spektakel, und er beschloss, sich unter die Jäger zu mischen. Während er den Wald vorsichtig umrundete, dachte er wieder an die Geschichte des Herodes. Denn jetzt kamen die letzten Tagen des Jahres, wo das Fest der unschuldigen Kinder gefeiert wurde. Es war ein schönes Fest mit Lichterglanz und wunderbaren, traurigen Gesängen. Und trotz seines Grams und seiner Sorge um Henri de Roslin, der als Jude verkleidet den König töten wollte, hätte er in diesem Augenblick gern dieses Fest an der Seite seiner verbliebenen Ordensbrüder gefeiert.

Oh, wie sehr hätte es ihn getröstet!

Aber stattdessen ritt er durch einen winterkalten Wald, der voller bösartiger Feinde war. Und jetzt kamen Lärm und Meute immer näher, in deren Mitte Henri de Roslin eingeschlossen sein musste wie ein gejagtes Tier zwischen seinen Treibern – auch wenn er selbst es war, der jagte.

Jacques de Charleroi saß ab und versteckte sein Pferd. Er sah mit brennenden Augen dem Reitertrupp entgegen. Jetzt konnte er einzelne Männer im Habit des Adels und Jäger in Grün und Braun erkennen. In höchster Spannung versuchte der Templer, Henri zu entdecken. Und wo war der König? Hatte Henri ihn tatsächlich…? Jacques wagte es nicht zu denken.