Ihm fiel plötzlich ein, dass er an der Außenmauer der Porta Nigra im deutschen Trier einmal auf die Zusammenstellung von drei Buchstaben gestoßen war, sie hatten ein Gesamtzeichen ergeben, auf das man die flache Hand legen musste. Dann öffnete sich wie von Geisterhand ein mächtiger Quader, hinter dem eine Treppe ins Innere dieses römischen Bauwerkes führte.
Joshua legte die Hand auf mehrere Markierungen, die er für Schlüsselmarken hielt. Nichts geschah. Der Mond warf sein bleiches Licht auf die vier seltsamen Gestalten zu Füßen des Donjon und wanderte unbeirrt weiter. Bald würde er verschwinden und sie allein im Dunkeln lassen.
Plötzlich hatte Joshua eine Idee. Er glaubte zu begreifen, wonach er wirklich suchen musste. Seine Gefährten drängten sich um ihn.
»Das könnte es sein«, flüsterte Joshua.
Henri de Roslin rüttelte an seinen Ketten. Das war vergeblich, denn sie lagen fest um seine Gelenke und waren tief in die Mauern hineingeschlagen. Aber er tat es dennoch.
»Willst du wohl mit dem Gerassel aufhören, verfluchter Ketzer!« Der Wachmann kam herein. Sein Gesicht drückte grenzenlosen Hass aus.
Henri sagte: »Eure lächerlichen Ketten hier können mich nicht halten, du Narr. Ich bin der einzige freie Mensch in diesem Gewölbe!«
»So? Dass ich nicht lache!«
»Und du bist nur eine Kreatur, eingekerkert in das Verlies deines tumben Kopfes.«
»Was redest du, verfluchter Hund! Ich werde dich…«
»Lege mir weitere Ketten an, fessle mich mit noch schwereren Eisen, und ich zeige dir, was ich meine! Ich trotze euch, dir, den Folterknechten und Imbert, der so schwach ist, dass er des Nachts schlafen muss.«
Außer sich vor Zorn über die Ruhestörung, schrie der Wärter: »Es widerspricht mir, dich totzuschlagen, solange du gefesselt bist. Aber ich werde es dir zeigen. Ich schließe die Ketten auf, siehst du? So und so! Und nun steh auf, wenn du kannst, laufe vor mir davon, denn ich werde dich mit der Peitsche züchtigen.«
Henri zog Beine und Arme aus den gelösten Eisenringen. Er spürte nicht die Schmerzen, achtete nicht auf das Blut, das von den geschundenen Gelenken heruntertropfte. Er stützte sich auf allen vieren, ließ den Kopf hängen und sammelte sich. Als der Wärter mit dem Ochsenziemer, an dessen Schnüren Stacheln hingen, näher kam, sprang Henri auf.
Der Wärter war überrascht. In sein dummes Gesicht trat nur langsam Verwunderung. Er grunzte und hob die Peitsche. Henri stieß mit Wucht gegen ihn, unter dem Aufprall taumelte der Wärter zurück und stolperte. Als er auf den Steinboden fiel, klirrten seine Schlüssel.
Henri riss ihm die Peitsche aus der Hand, sprang auf den Liegenden und drückte ihm den Peitschengriff aus gehärtetem Leder gegen die Gurgel. Verzweifelt versuchte der Wärter freizukommen. Er wand sich und zappelte wie ein auf dem Rücken liegendes Tier. Aber Henri drückte unbarmherzig zu. Der Wärter bekam keine Luft mehr. Sein Gesicht lief rot an. Er japste, weiße Schaumblasen kamen über seine Lippen. Dann verdrehte er die Augen und erschlaffte. Sein Körper streckte sich noch einmal.
Henri sprang auf. Dann knickte er jedoch gleich wieder zusammen. Zu stark hatten ihm die Entbehrungen und die Qual zugesetzt. Er blieb schwer atmend hocken und versuchte, zu Kräften zu kommen. Als es ihm gelungen war, zerrte er den toten Wärter zu dem Marterinstrument, das mit verdecktem Gesicht im Hintergrund stand.
Die beweglichen Arme und Schwerter in den Händen der eisernen Jungfrau ragten ihm drohend entgegen. Henri ließ den Toten auf den unsichtbaren Mechanismus vor dem Gerät fallen. Die Federn wurden durch die Gewichtsteile in Bewegung gesetzt. Die Jungfrau öffnete ihre Arme. Henri bemerkte im Boden des Instrumentes Lederriemen und ein breites Loch zum Abfluss des Blutes.
Ich muss die Falltür öffnen, dachte Henri. Er zerrte den Körper des Wachmannes in das Innere des Marterinstrumentes und versuchte, ihn so zu legen, dass er den Mechanismus abklemmte. Er musste vorsichtig vorgehen, denn wenn ihn die spitzen Schwerter und Dolche erfassten, erlitt er tiefe Wunden.
Als er schon glaubte, das Marterinstrument beherrschen zu können, die Falltür zu öffnen und durch den Schacht hinunterspringen zu können, wo sich zweifellos das Wasser befand, das die Delinquenten gewöhnlich mit sich fortriss, sah er etwas Schreckliches. In seiner grenzenlosen Enttäuschung musste er sich erst an den Anblick gewöhnen.
Und als er noch darauf starrte, hörte er vom Eingang zum Keller her Lärm.
Henri erstarrte. Das musste die Wachablösung sein.
»Man sollte dich als Hexer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, Joshua!«
»Das finde ich auch!«
»Ich finde das nicht. Es hat nichts mit Zauberei zu tun, sondern entspricht klaren Überlegungen. Sie haben einfach Zeichen aus unterschiedlichen Sprachen miteinander verbunden – vielleicht weil sie ungebildet waren, vielleicht auch, weil sie viel mehr wussten, als ich begreifen kann.«
»Vielleicht waren es auch unterschiedliche Bauarbeiter zu unterschiedlichen Zeiten?«
»Ich glaube eher, es waren wenige, und sie verrätselten ihre Zeichen ganz bewusst.«
»Wer waren sie?«
»Nun, die Steinmetze. Sie haben Zeichen bald auf der Mitte des Steins, bald auf den Kanten oder Ecken, ein und dasselbe Zeichen erscheint dabei entweder aufrecht oder liegend, bald schräg, hier einzeln, dort in Gruppen, verbunden mit Buchstaben aus dem Altgriechischen.«
»Aber ich sehe doch auch Quadern, diese gebuckelten hier, die überhaupt keine Zeichen tragen.«
»Dann haben sie bewusst vermieden, solche gezeichneten Steine nach außen zu legen. Du kannst sicher sein, dass sie innen glatt geschliffen und markiert sind.«
»Nun und! Und!«
»Sie wollen uns sagen, wie wir die Steine durchsichtig machen können.«
»Sprich nicht in Rätseln, Joshua!«
»Wenn wir ihren Hinweisen folgen, gelangen wir hinein.«
»Aber wie denn?«
»Hier! Es sind Zeichen der Nichtvollendung, Zeichen einer Bestrafung, Marken fremder Sektierer. Ja, wir haben Glück, die Steinmetze, die hier bauten, müssen Mitglieder einer Ordensbruderschaft gewesen sein. Denn diese Leute sind nicht nur einfache Maurer, sie bauen nach einem System, das für sie den Schlüssel zum Begreifen der Welt, des Kosmos ausdrückt. Jeder Stein darin hat eine Bedeutung und seinen bestimmten Platz. Wir müssen ihnen nur folgen…«
»Joshua, der Mond!«
»Ja, ja! Gleich! Wenn ich nur wüsste, wo ich das alles schon einmal gesehen habe!… Ein Herz, ein Schlüssel, ein Fisch…und drei X-Zeichen mit einem nachfolgenden V und einem nachfolgenden T, ein großes A mit einem Dach darauf und das Sinuszeichen, gefolgt von einem Alphazeichen, und ein Becher und eine Eichel… das ist ohne jeden Sinn! Oder ich erkenne ihn nur zum Teil! – Ich erkenne…«
»Joshua, der Mond geht gleich unter!«
»Das hier meint nur die Zeit der Entstehung…«
»Brauchen wir nicht!«
»Das hier… ob mehrere Teile des Baues gleichzeitig sind oder nicht…«
»Schneller, Joshua!«
»Das hier heißt Kanonenscharte. Das hier heißt – Moment! Kanonenscharte? Wo gibt es hier eine Kanonenscharte! Es gibt keine! Was heißt das genau?… Folge dem mittleren Dreistein, dann dem Schilteck, tiefe Linien, glatte Ränder, ich finde nicht das Rückgrat dieser Figuren hier, die Zeichen sind… nein, es ist sinnlos!«
In diesem Moment verschwand der Vollmond hinter den Wipfeln der Tannen. Joshua konnte nichts mehr erkennen. Tiefe Dunkelheit legte sich augenblicklich über die Männer an der Mauer des Donjon. Und tiefe Mutlosigkeit legte sich auf die Herzen der Gefährten.
»Joshua?«
»Was ist?«