Enguerrand sagte: »Ich hörte von solchen Bruderschaften. Gibt es sie nicht auch jetzt noch? Haben die Templer nicht mit diesen Steinmetzen und Maurern diese neuen, hochfahrenden Kirchen gebaut – in Cluny, in Chartres? Sagt man nicht, in diesen Bauplänen stecke ein uraltes Wissen, das sie aus dem Tempel Salomons in Jerusalem ausgegraben haben, in dem sie sieben Jahre lang wohnten? Denn bisher hat niemand so gebaut, und plötzlich sind Maurer und Steinmetzen da, die das alles können! Woher kommen sie? Was wissen sie, was wir nicht wissen?«
»Herr, ich weiß von solchen Dingen nichts.«
»Sie trauten also den fest gefügten Mauern nicht, wie? Sie besaßen irgend so ein Ideal von Freiheit? Sie machten die Mauern, die sie doch selbst errichtet hatten, durchlässig! Und wodurch erreichten sie dies? Wir haben in der Außenmauer des Turms keinen Eingang, kein einziges Zeichen gefunden, das auf eine geheime Pforte hinweist. Konnten sie zaubern?«
Einer der anwesenden Prälaten des Königs bekreuzigte sich. Imbert schnaufte nur.
Der Beschließer sagte ängstlich: »Ich kenne einen Reim, den sie aufgeschrieben haben. Er lautet: Wenn Milde sich mit Strenge paart, mit Vorschrift, Fleiß und Tat, bleibt Heiliges durch Zahl bewahrt, im heiligen Quadrat. Sie kannten geheime Zeichen und Zahlen.«
»Und die unbekannten Ketzer, die den Schatzmeister der Templer befreiten, die kannten solchen Unfug wohl auch?«
»Ja, Herr. Sie müssen es verstanden haben, die Mauern zu lesen. Es müssen heilige Leute gewesen sein…«
»Was? Du wagst es!«
»Ich meine, es müssen hochgebildete Leute gewesen sein, Herr.«
Der Generalinquisitor erhob sich schwerfällig. »Nun. Wie dem auch sei. Ob gebildet oder nicht, es soll ihre letzte Untat gewesen sein. Der Herrgott stehe uns bei, sie haben den König umgebracht! Und vielleicht geht auch der Heilige Vater auf ihr Konto! Von jetzt an werden wir sie jagen. Jeder Reiter, der abkömmlich ist, wird sie durch das Land verfolgen. Wohin sie sich auch immer verkrochen haben, wir werden sie wie das Wild im Wald von Maxence zu Tode hetzen. Denn wir sind es, die in diesem Land die Macht besitzen! Wir sind es, die den rechten Glauben besitzen! Und sie sind ein Nichts! Staub an den Hufen ihrer Reittiere! Jagt sie, schlagt sie, verkrüppelt sie, zerstückelt sie! Tötet sie alle! Vor allem tötet Henri de Roslin!«
Henri de Roslin war bereit, es mit allen Feinden aufzunehmen. Nachdem er die Folgen der Tortur überstanden hatte, betete er in der Kapelle eines Klosters um Beistand.
Der Bittgottesdienst um vier Uhr morgens war vorüber, das Morgenoffizium vom Abt des Klosters gelesen worden. Die kleine Kirche in der Nähe von Aigues-Mortes lehrte sich. Die Teilnehmer gingen langsam den steilen Uferweg hinunter zum neuen Hafen von Le Grau du Roi, stumme Männer, begleitet von ihren Frauen, von ihren Familienangehörigen. Selbst die Hunde bellten nicht mehr. Der Morgen graute, und das Schiff lag schon bereit.
Henri starrte auf die seltsamen Zeichen und Gesichter an den Wänden und auf dem Kreuzrippengewölbe der Kapelle.
Über den zwei Meter hohen Fliesen sahen ihn zwei Stierköpfe an, die für die materielle Welt, für das Erdhafte, für Kraft und Stärke, standen. Das rote achteckige Tatzenkreuz darüber begann ihn zu trösten, hier in diesem abgelegenen Winkel im Süden Frankreichs existierte es noch, es schien ihm plötzlich als Symbol des Lebens zu leuchten. Ein gutes Omen! Ebenso wie die Lebensrosetten auf den Schlusssteinen der Kreuzrippen, die mystischen Rosen des heiligen Grals.
Er glaubte den Zeichen und Zahlen aus der Verkündigung. Er glaubte, dass die Schmach des Ordens der Templer rückgängig gemacht werden konnte.
Henri wartete dennoch auf die Morgendämmerung wie ein zum Tode Verurteilter, den das Klopfen des Zeithämmerchens auf den Kirchenglocken zum Schafott ruft. Das Zeichen kam, die ersten Lichtfinger der Sonne tasteten über das Meer, Küsten, Wälle und Stadtmauern der kleinen Stadt und drangen bis in die Zimmer der Schlafenden.
Der Ort am Meer, den man dem versandenden Hafen von Aigues-Mortes vorgesetzt hatte, erwachte ungläubig wie ein Kind. Und seine Gefährten erwachten.
Jetzt ging es auf die große Reise.
Henri hätte gern vor dieser unabsehbaren Weite, die in den kommenden Tagen vor ihm lag, die Augen verschlossen, vor diesem gefährlichen Glanz von Süden her, der lockte wie eine verführerische Frau, vor diesem Abgrund hinter dem Horizont.
Aber es waren ja nur die Balearen, die warteten.
Jede Minute der zurückliegenden Tage war angefüllt gewesen mit quälenden Erinnerungen. Ein Leben auf der Flucht war nicht angenehm. Es gab darin so viel Unwägbarkeiten, so viele begangene Fehler. An diesem Morgen der Abreise aus seiner Wahlheimat Frankreich hasste Henri die unbarmherzige Flüchtigkeit der Zeit und hätte sich ein Verweilen gewünscht. Hatte er nicht wie jeder ein Anrecht auf Gottes treue Erde?
Ihr aller Leben war so flüchtig! Wie ausgespien! Und wenn es auch noch mit pausenlosen Gefahren angefüllt war, dann schien es doppelt schwer erträglich zu sein.
Von diesem Gedanken gequält, wurde er nun gänzlich wach. Er sah hinaus auf das Meer. Jetzt erblickte er Uthman, Joshua und Sean, die aus dem Klostergarten zu ihm heraufkamen. Jacques de Charleroi war vor Tagen nach dem portugiesischen Castro Marim zurückgekehrt. Und auch die anderen Freunde und Leidensgefährten aus Frankreich blieben zurück.
Henri spürte ein Glücksgefühl in sich aufsteigen, Glück darüber, solche treuen Gefährten zu haben.
Henri erhob sich. Zu jedem Leben, auch zu seinem, zählte jede unbarmherzige Minute, die man im Ungewissen verweilen musste. Er fürchtete sie, denn niemand wusste, was als Nächstes geschah, niemand, was morgen kam. Und gleichzeitig genoss er jede Minute.
Denn jetzt spürte er es genau. Heute war ein guter Tag zum Überleben.
Historische Nachbemerkung
Henri und Uthman haben den Fluch der Templer vollendet – Papst Clemens V. und der französische König Philipp der Schöne sind tot; die Vernichtung der Templer ist gerächt. Aber wieso residiert der Papst in Avignon und nicht in Rom? Was weiß man wirklich über den Tod der beiden Drahtzieher des Templermordes? Was hat es mit dem sagenhaften Schatz der Templer auf sich? Was ist in diesem Roman historisch, und was ist Fiktion?
Wenn es ein Rätsel gibt, das immer mit dem Templerorden verbunden sein wird, dann ist es die Frage nach der Existenz des legendären Ordensschatzes. Dass der Orden sehr reich war, zeigt sich insbesondere an dem gewaltigen Landbesitz, über den die Templer im Abendland, aber auch im Heiligen Land verfügten. Zahllose Schenkungen von Fürsten und Privatpersonen hatten einträgliche Güter in den Besitz des Ordens gebracht, aus deren Einkünften die Kosten des Kampfes im Heiligen Land bestritten wurden. Natürlich verschiffte der Orden keine Naturalien ins Heilige Land, sondern Geld, um es vor Ort zur Beschaffung der für den Kampf benötigten Dinge zu verwenden. Damit waren sicherlich ständig größere Geldmengen auf Transporten zu Land und zu Wasser unterwegs oder wurden auch in Komtureien gelagert. Im Temple von Paris, in dem ein regelrechtes Bankhaus mit geregelten Kassenzeiten betrieben wurde, war in den Jahren vor der Verhaftung der Templer auch der königliche Schatz aufbewahrt worden. Insgesamt wurden hier sechzig Privatkonten geführt, die Mitgliedern des Hochadels, Kirchenfürsten, aber auch Würdenträgern des Ordens gehörten. Geldmittel waren also zur Zeit der Verhaftung fraglos in großen Mengen vorhanden. Aber dies betraf wohl nicht nur den Temple in Paris, sondern auch andere Stützpunkte der Templer in Frankreich, wo in ähnlicher Weise das Geld der Kunden aufbewahrt wurde.