Ein Hinweis auf einen tatsächlich verschwundenen Templerschatz findet sich in der Aussage des dienenden Bruders Jean de Châlon. Er war zur Zeit der Verhaftung Präzeptor des Templerhauses von »Nemoris« (Namur?). Ende Juni 1308 wurde er von der päpstlichen Kommission in Poitiers als 46. Zeuge in den Anhörungen von Poitiers befragt. Dabei gab er an, einige der hochrangigen Ordensmitglieder hätten schon vorzeitig von der drohenden Verhaftung erfahren. Zu diesem Kreis gehörte seinen Angaben nach der Präzeptor von Frankreich, Gérard de Villiers. Dieser machte sich mit 50 Pferden auf den Weg und stach, wie der Zeuge gehört hatte, mit 18 Galeeren in See. Weiter sagte Jean de Châlon aus: »… Bruder Hugues de Châlons machte sich mit dem gesamten Schatz des Bruders Hugues de Pairaud auf die Flucht« [Finke, II, S. 339 (Nr. 155)].
Unwahrscheinlich ist es nicht, dass die Templer die Pläne des Königs zu ihrer Verhaftung in Erfahrung bringen konnten. Der Brief, mit dem Philipp IV. den Haftbefehl erteilte, war am 14. September 1307 verfasst worden, einen ganzen Monat vor dem Verhaftungstermin. Schon in der Woche nach dem 1. Oktober erschien Hugues de Pairaud vor dem Papst und äußerte seine Bedenken wegen des Inhalts des königlichen Briefes und sprach davon, dass er, wenn es möglich wäre, sein eigenes Leben und das seiner Brüder retten wolle [Schottmüller, I, S. 128; Michelet, II, 373]. Auch warnte der Vorsteher des Temple in Paris alle dort dienenden Brüder vor Aussagen, die dem Orden Schaden zufügen könnten.
Etwa 30 namentlich bekannte Templer nutzten das Wissen um die drohende Verhaftung zur Flucht. Etwa die Hälfte von ihnen wurde später aufgegriffen und den Untersuchungskommissionen vorgeführt. Wir wissen von ihrer Flucht durch ihre Aussagen. Eine Liste nennt die Namen von insgesamt zwölf Flüchtlingen. Zwei von ihnen, Pierre Bouche und Imbert Blanc, erscheinen in späteren Protokollen, wurden also bald nach ihrer Flucht erkannt und festgenommen. Unter den übrigen Genannten finden sich nur zwei auch sonst bekannte Namen. Es sind Gérard de Villiers, von dem es hier heißt, er habe »… vierzig Brüder bewaffnet…«, und Hugues de Châlons [Finke, II, S. 74 (Nr. 50, I)]. Damit steht fest, dass zumindest der Schatz des Visitators von Frankreich, Hugues de Pairaud, tatsächlich mit unbekanntem Ziel verschwand.
Diese Flucht war allem Anschein nach keine Kurzschlusshandlung. Dahinter stand vielmehr ein Plan mit dem Ziel der Ermordung des französischen Königs. Eine kurze Notiz in derselben Handschrift, die auch die Liste der Flüchtlinge enthält, spricht von einer Verschwörung. Es heißt dort:
»Der Bruder Hugues de Châlons, Neffe des Visitators, und Bruder Girardus de Monte Claro, Ritter des Ordens oder Templer-Sekte, beabsichtigten zusammen mit einigen ihrer Komplizen von derselben Sekte, den König zu töten« [Finke, II, S. 75 (Nr. 50, II)].
Diese Notiz ist der einzige Hinweis auf ein solches Komplott. Ein weiteres Indiz für ein geplantes Vorgehen ist möglicherweise in der Verwandtschaft zwischen einzelnen der Flüchtlinge untereinander und mit Hugues de Pairaud zu sehen. Man kannte sich und war sich seiner Vertrauten sicher. Auch wenn Jean de Châlon aussagt, Gérard de Villier habe 50 Pferde weggeführt, die Liste der Flüchtlinge aber mitteilt, er habe 40 Brüder des Ordens bewaffnet, so ist zu erwarten, dass beides zusammengehört. Er rüstete offensichtlich eine bewaffnete Truppe aus, die zu Pferd mit unbekanntem Ziel verschwand. Dass sie sich tatsächlich einschifften, ist unwahrscheinlich, der Zeuge hatte dies auch nur gehört. Die achtzehn Galeeren wären zweifellos aufgefallen, eine solche Flotte war Aufsehen erregend. Zur Finanzierung des Vorhabens hatte Hugues de Pairaud seinen Schatz, vielleicht den Inhalt seines Bankguthabens im Temple von Paris, den Mitverschwörern übergeben. Er wurde an einen ebenfalls unbekannten Ort gebracht.
Das Vorhaben scheiterte offensichtlich. Es ist zu erwarten, dass die Verschwörer vorhatten, den König noch vor der Vollstreckung des Haftbefehls zu ermorden, um diesem zuvorzukommen. Wahrscheinlich hätte der Tod des Monarchen das Vorgehen gegen den Orden zu einem Ende gebracht. Nach der Verhaftung konnte der Anschlag allerdings nur noch wenig Sinn haben, denn dann wäre der Verdacht sofort auf die Templer gefallen.
Unvorstellbar ist ein solcher Plan innerhalb des Ordens nicht. Immerhin waren die Tempelritter auch schon im Heiligen Land in einen Mordanschlag verwickelt gewesen. Als sich die Verhandlungen des Königs von Jerusalem mit dem Alten vom Berge, dem Kopf des muslimischen Assassinen-Ordens, für die Templer ungünstig zu entwickeln drohten, tötete ein Templer den Gesandten der Assassinen. Diese Episode zeigt deutlich, dass die Templer bei der Lösung solcher Probleme nicht zimperlich waren. Und wenn es um die Existenz des Ordens selbst ging, dann war sicherlich jedes Mittel recht. Allerdings ist bei dem vermuteten Mordkomplott gegen Philipp IV. zu bedenken, dass Hugues de Pairaud während des Prozesses gegen die Templer eine ganze Reihe ungeheuerlicher Verbrechen angelastet wurden. Immer wieder wurde er von den Zeugen bezichtigt. Und so wäre es auch nicht völlig auszuschließen, dass die Notiz nur ein weiterer weit hergeholter, aber plausibel erscheinender Anklagepunkt sein sollte, um gegen den Visitator vorzugehen.
Ziel der flüchtigen Tempelritter konnten letztendlich nur Gebiete sein, in denen der französische König keinen oder nur wenig Einfluss hatte. So bot sich zweifellos neben den englischen Besitzungen um Bordeaux auch das Herzogtum Bretagne als nahe gelegenes Rückzugsgebiet an. Imbert Blanc wurde in England verhaftet, wo er noch eine Rolle im dort gegen die Templer geführten Prozess spielen sollte.
Das Herzogtum Bretagne war als »Sprungbrett« nach England sicherlich ein in Frage kommendes Ziel in der ersten Zeit der Flucht. Auch existierte hier bis zur Auflösung des Ordens ein dichtes Netzwerk von Ordenshäusern und anderen Besitzungen und damit auch von Personen, die dem Orden verbunden waren. Schon seit dem Jahr 1141 waren die Templer in Nantes ansässig. In diesem Jahr hatte Herzog Conan III. von der Bretagne dem Orden in der Stadt einen Standort für ein Ordenshaus angewiesen, das er von der Gewalt der weltlichen Gerichte sowie von allen Abgaben freistellte. Darüber hinaus gewährte er dem Orden 100 Solidi jährlich aus den ihm zustehenden Einkünften der Stadt sowie Abgabenfreiheit im Bereich seiner Herrschaft für alle Güter im Besitz des Templerordens [Morice, I, Sp. 583]. Als Herzog Conan IV. die Privilegien des Ordens im Jahr 1160 bestätigte, nennt die zu diesem Zweck ausgestellte Urkunde fast 60 Orte, in denen sich Templerbesitz befand [Morice, I, Sp. 638; s. a. Havemann, 1846, S. 151, 152]. Wie eine weitere Urkunde aus dem Jahr 1222 zeigt, hatten die Templer zu diesem Zeitpunkt eine Burg in Nantes [Morice, I, Sp. 850; s. a. Havemann, 1846, S. 152]. Es war also ein sehr umfangreicher Besitz, der auch befestigte Plätze umfasste, der den Templern im Herzogtum Bretagne zur Verfügung stand.
Am Beginn des 13. Jahrhunderts war Peter Mauclerc, der dem französischen Königshaus entstammte, zum Herzog der Bretagne erhoben worden. Doch war er bestrebt, seine Herrschaft von Frankreich unabhängig zu halten, was ihn bis in den offenen Aufstand trieb. Er musste schließlich zugunsten seines Sohnes Johann I. abdanken, der in der Bretagne bis 1286 als Herzog herrschte. König Philipp IV von Frankreich erhob schließlich den nachfolgenden Herzog, Johann II. (1286-1305), in den Rang eines Pairs. Als Gegengabe für diese Rangaufwertung erwartete der König allerdings nicht nur die Huldigung durch den Herzog, sondern auch Unterstützung bei seinen militärischen Vorhaben sowie die Anerkennung der Oberhoheit des »Parlements« von Paris in rechtlichen Fragen. Der Herzog ging nicht wirklich auf die Ansprüche des Königs ein, sondern bemühte sich auf jede Weise, seine Stellung zu behaupten. Bei der aber dennoch vorhandenen engen Bindung an Frankreich kam es zu einer nachteiligen Entwicklung in der Bretagne. Viele bretonische Adelige sahen sich veranlasst, die angestammte Heimat zu verlassen. Sie bemühten sich um Ämter am Hof des französischen Königs oder beim Militär. Aber auch Gelehrte, Studenten und selbst Handwerker wanderten nach Frankreich ab, da sie sich dort bessere Verdienstmöglichkeiten versprachen. In der Bretagne selbst machte sich, besonders in der Sprache, französischer Einfluss breit.