Während er darum kämpfte, nicht niedergetrampelt zu werden, ging es ihm durch den Kopf, ob er nicht selbst ein menschliches Teil dieser chaotischen Zustände war. Gefangen in den Krallen seiner eigenen Rachegelüste? Das stimmte. Aber er hatte einen Grund für seinen Hass – unschuldige Menschen zu rächen. Die Königlichen konnten keinen Grund anführen – außer ihrer Gier nach Macht und Besitz. Henri hoffte inbrünstig, dass der Herrgott auf seiner Seite war.
Den Gefangenen wurden die Schlingen um die Hälse gelegt. Henri musste sich beherrschen, um nicht nach vorn zu stürmen, die Bewacher niederzustrecken und die Unglückseligen zu befreien. Aber es wäre sein eigenes Ende gewesen. So kniete er nieder und bekreuzigte sich.
Und während hinter dem Schafott schon die Scheiterhaufen angezündet wurden, um die sterblichen Überreste der Gehenkten in Feuer und Glut aufzunehmen und zu reinigen – so verstand es die Logik der Henker –, stand Henri auf und ging davon. Er ertrug den Anblick nicht. Es hätte sein Herz zerrissen, als wäre er selbst dort oben, wo sich in diesem Moment die Henkerschlingen spannten, weil im Boden des Podestes die Fallklappen mit einem dumpfen Laut aufgesprungen waren.
Die Gehenkten schwangen hin und her. Die Menge seufzte auf und schwieg dann endlich.
Auf dem Weg zurück zum Stellmacher gab sich Henri einen Ruck. Er wollte sich vor seinen Gehilfen nichts anmerken lassen. Mit ausdrucksloser Miene löste er sein Fuhrwerk aus und trieb die Gehilfen an. Er ließ anspannen. Und eine halbe Stunde später, während die Kirchenglocken das Ende des schrecklichen Schauspiels anzeigten, fuhr die kleine Karawane aus Domfront hinaus.
Als die Stadttore sich hinter ihm schlossen, atmete Henri auf. Vor ihm lag die flache, wasserreiche Landschaft der östlichen Bretagne, und er wusste jetzt, dass er versuchen musste, ein Versteck auf dem Land zu finden. Vielleicht war die kleine, verlassene Templerburg in Flers dafür geeignet. Vielleicht war auch ein ganz anderes Versteck nötig, an das er jetzt noch gar nicht dachte.
Sie kamen gut voran. Die Gesellen sagten kein Wort, und auch Henri verspürte keine Lust, etwas zu sagen. Es wurde Abend. Sie rasteten an einem See. Sollte er den Schatz auf dem Grund dieses Sees versenken? Er war ja ohnehin schon in fischölgetränktes Leinen eingewickelt.
Nach reiflicher Überlegung nahm er von diesem Gedanken Abstand, er war zu gewagt.
Am nächsten Morgen ging es vor Sonnenaufgang, als die Luft noch kühl war, weiter. Und noch immer wusste Henri de Roslin nicht, wo er sein Versteck finden würde.
Sie fuhren jetzt nach Westen, passierten einen Fluss namens Selune und die Stadt Saint Hilaire. Immer wieder kontrollierte Henri seine kostbare Fracht, zurrte die Seile nach und achtete auf eventuelle Beschädigungen der Fässer. Denn die Straße war schlecht, Schlaglöcher bedeckten ihren Belag, und die Räder brachen immer wieder tief ein.
Aber dann wurde der Weg besser, und die Fahrt blieb eine Weile ereignislos. Da die Gegend, durch die sie jetzt zogen, topfeben und sumpfig wurde, war es aussichtslos, nach einem Versteck Ausschau zu halten. Wieder musste Henri an die Geschehnisse der Vergangenheit denken.
Es war bereits im Jahr des Herrn 1307 gewesen, als der ruchlose Brief König Philipps bekannt wurde. Er hatte Haftbefehle erlassen. Es war einem glücklichen Umstand zu verdanken, dass ein Sekretär des Ordens diesen Brief auf dem Schreibtisch des Papstes sah. Und schon eine Woche später brachen einige Templer auf, um sich in Sicherheit zu bringen. Dazu gehörte der Präzeptor Gérard de Villiers, der sich mit 50 Pferden und 18 Galeeren auf den Weg machte – an Bord der Schatz des Bruders Hugues de Pairaud. Auch diesen Schatz hatte Henri später zurückholen können. Es hatte ihn viele Kämpfe gekostet. Das Vermächtnis der Templer sollte in einer Hand bleiben.
Einige Brüder bewaffneten sich, um sich zu erheben. Henri fielen die Namen Pierre Bouche und Imbert Blanc ein. De Villiers hatte vierzig Templer unter schwere Waffen gestellt. Aber es kam nicht zur Revolte. Alle wurden vorher verhaftet. Es schien so, als säßen bezahlte Spitzel in den eigenen Reihen.
Henri seufzte unwillkürlich auf. Mord und Totschlag regierten. Aber die Templer handelten nicht als Erste, sie wehrten sich nur. Henri wusste auch, dass die Ordensbrüder zu Attentaten durchaus in der Lage gewesen waren. Er hatte mit vielen darüber gesprochen. Es gab einen Untergrund von gewaltbereiten Templern. Sie alle hatten gelernt von den Mördern, die damals bei den Verhandlungen zwischen dem König von Jerusalem und Aloudin, dem Alten vom Berge aus der Felsenfestung von Alamut, einen Gesandten der verschworenen Assassinen getötet hatten. Ja, es gab Brüder, die nicht zimperlich gewesen waren. War es anders möglich, wo es doch um die Rückeroberung des Heiligen Landes gegangen war? Und jetzt, wo es um die nackte Existenz des Ordens ging, war da nicht noch viel mehr jedes Mittel recht?
Henri verachtete die Gewalt. Aber wenn sie nötig wurde, war er bereit, sie anzuwenden. Wären doch auch die Brüder dazu bereit gewesen, dann hätten sie vor Jahresfrist nicht die Karren zu den Scheiterhaufen an der Porte Sainte-Antoine besteigen müssen. Und die in Senlis, Pont-de-L’Arche und Carcassone ebenfalls nicht.
Je näher sie der nördlichen Küste kamen, desto mehr setzte sich in Henri der Gedanke fest, ob er nicht nach Schottland zurückkehren sollte. Dort hatte König Robert nach dem Sieg über König Eduard von England die Unabhängigkeit errungen. Die Vorstellung beflügelte ihn einen ganzen Tag lang ungeheuer. Die Weiten des schottischen Landes zu sehen, seine freie Luft zu atmen, am Wasser zu sein! Und die Schrecken zu vergessen!
Aber nein. Er musste im Herzogtum Bretagne bleiben, zumindest so lange, bis er ein Versteck für den Schatz gefunden hatte. Denn das Geld wurde in Frankreich dringend gebraucht. Hier in diesem Land, das ebenso wie Flandern und Guyenne auf Unabhängigkeit von der französischen Krone gedrängt hatte, existierten noch die Reste eines ehemals dichten Netzwerkes von Ordenshäusern und ehemaligen Besitzungen. Henri erinnerte sich dunkel, dass es mehr als sechzig Häuser gewesen waren, aber er wusste nicht, an welchen Orten sie sich befanden. Wenn er nur an die schriftlichen Unterlagen im Temple von Paris gekommen wäre! Aber der war jetzt im Besitz der Johanniter, ihrer größten Feinde.
Henri wusste ohne diese Unterlagen nur von einer Burg und einem Ordenshaus in Nantes, das von der Gewalt weltlicher Gerichte und allen Abgaben seiner Güter freigestellt war. Die Brüder hatten jährlich einhundert Solidi aus allen Einkünften der Stadt bezogen! Aber mit diesen Privilegien war es vorbei.
Henri wusste nicht einmal, ob die Burg inzwischen nicht schon einen anderen Herrn besaß. Dort hinzugehen war also viel zu gefährlich. Denn vielleicht saßen gerade dort die Polizisten Philipps und warteten nur auf Flüchtlinge. Und auf Flüchtlinge mit Geldkisten ganz besonders.
Außerdem lag Nantes zu weit im Südwesten des Herzogtums. Er hätte mindestens vier Tagesreisen benötigt.
Henri de Roslin war jedoch klar, dass auch das Herzogtum Bretagne insgesamt nicht mehr sicher war. Er wusste, dass der König den bretonischen Adligen Johann in den Rang eines Pairs erhoben hatte, um ihn an sich zu binden. Der königliche Einfluss nahm immer mehr zu. Unter diesen Umständen war es fraglich, ob die bisher freisinnig denkenden Bretonen Henri unter ihren Schutz stellen würden.
Henri bekam selbst das Gefühl, die Fahrt mit den Fuhrwerken gliche immer mehr einer Kreisbewegung. Wohin sollte er ziehen? Er bemerkte die fragenden Blicke der Gehilfen, ihre lustloser werdenden Gesten. Eine Fahrt mit halb leeren Gurkenfässern schien ihnen sinnlos. Abends am Lagerfeuer fragte dann plötzlich einer von ihnen, er hieß Giselle und kam aus der Cité:
»Meister, wohin gehen wir? Es wird bald Herbst, und dann sollten wir einen Unterschlupf haben.«
Henri nickte. »Ich verspreche euch, dass wir höchstens noch ein paar Wochen, sagen wir bis Michaelis, auf der Straße sind. Dann habe ich meine Ladung verkauft, ich zahle euch aus, und ihr könnt nach Paris zurückkehren.«