»Bring diesem Menschengeschöpf Speise und Trank!« befahl sie.
Der Zwerg ging und kehrte gleich darauf zurück. Er brachte in einer eisernen Schale Wasser und auf einem Eisenteller ein Stück trockenes Brot. Wie er es auf den Fußboden neben Edmund setzte, grinste er widerlich und höhnte: »Hier ist der türkische Honig für den kleinen Prinzen. Hahaha!«
»Nimm das weg«, trotzte Edmund. »Ich will kein trockenes Brot.« Aber die Hexe drehte sich ihm mit einem so furchtbaren Gesichtsausdruck zu, daß er sich entschuldigte und langsam an dem Brot zu knabbern begann, wenngleich es so altbacken war, daß er es kaum hinunterwürgen konnte.
»Er wird noch dankbar daran zurückdenken, ehe Er wieder Brot zu kosten bekommt«, sagte die Hexe.
Während er still vor sich hinkaute, kam der erste Zwerg zurück und meldete: »Der Schlitten ist bereit.«
Die Weiße Hexe stand auf und ging hinaus. Sie befahl Edmund, ihr zu folgen. Als sie auf den Hof hinaustraten, schneite es wieder einmal, aber die Hexe achtete nicht darauf, und Edmund mußte neben ihr im Schlitten Platz nehmen. Doch bevor sie losfuhren, rief sie Maugrim herbei. Er kam wie ein ungeheurer Hund angetrottet.
»Nimm die schnellsten deiner Wölfe, und laufe sofort zum Biberhaus«, befahl sie ihm. »Töte, wen du dort findest. Sind sie bereits unterwegs, so eile an den Steintisch, aber laß dich nicht blicken. Warte dort im Verborgenen auf mich. Ich muß indessen sehr, sehr weit gen Westen, bevor ich eine Stelle finde, wo ich den Fluß überqueren kann. Möglicherweise erreichst du die Menschengeschöpfe, bevor sie am Steintisch ankommen. Du weißt, was du zu tun hast, wenn du sie findest.«
»Ich höre und gehorche, o Königin«, knurrte der Wolf und schoß blitzgeschwind in Schnee und Dunkelheit hinaus, schneller als das schnellste Roß.
Nach ein paar Minuten hatte er einen andern Wolf herbeigelockt, rannte mit ihm zum Damm hinunter, und sie schnüffelten um das Biberhaus herum. Natürlich fanden sie es leer. In einer klaren Nacht wäre es für die Kinder und die Biber schlimm gewesen. Dann hätten die Wölfe ihre Spur leicht verfolgen können und sie bestimmt eingeholt, ehe sie ihren Schlupfwinkel erreicht hätten. Durch den Neuschnee jedoch war die Fährte ausgekühlt, sogar die Fußspuren waren zugeweht.
Der Zwerg hieb auf die Rentiere ein, und die Hexe und Edmund glitten durch den Torbogen in die Dunkelheit und die Kälte. Es war eine fürchterliche Fahrt für Edmund, der ohne Mantel war. Nach einer Viertelstunde war seine Brust ganz beschneit, und kaum hatte er den Schnee abgeschüttelt, so bedeckte er ihn von neuem. Und er war so müde. Bald war er wieder bis auf die Haut durchnäßt. Ach, und wie unglücklich fühlte er sich! Es sah gar nicht mehr so aus, als wolle die Hexe ihn zum König machen. Was hatte er sich da alles eingeredet: wie gütig und freundlich sie war und daß sie im Recht sei. Jetzt erschien ihm das alles dumm, und er hätte viel darum gegeben, in diesem Augenblick bei den andern zu sein, sogar bei Peter.
Es gab nur einen Trost. Vielleicht war alles nur ein böser Traum, und er konnte jeden Augenblick erwachen, denn je länger sie fuhren, um so mehr ähnelte das Ganze einem Traum. Aber ach, er erwachte nicht. Er war wach, und es war kein Traum.
Es währte viel länger, als ich zu beschreiben vermag, selbst wenn ich Seiten und Seiten schriebe.
So will ich dort fortfahren, wo es zu schneien aufhörte, der Morgen anbrach und sie bei Tageslicht dahinglitten.
Sie fuhren, fuhren immerzu. Er hörte keinen andern Laut als das unablässige Knirschen des Schnees und das Knarren des Zaumzeugs. Da endlich rief die Hexe: »Halt an! Was ist da los?« Und sie hielten an.
Wie sehr hoffte Edmund, sie würde nun etwas von einem Frühstück sagen. Doch sie hatte aus ganz andern Gründen halten lassen. Ein wenig abseits, am Fuß eines Baumes, saß eine fröhliche Gesellschaft beisammen, nämlich ein Eichhörnchen mit seinem Weib und ihren Kindern, zwei Satyre, ein Zwerg und ein alter Fuchs. Sie saßen auf Hockern um einen Tisch herum. Edmund sah nicht genau, was sie aßen, aber es roch herrlich; alles war mit Weihnachtsgrün und Stechpalmen geschmückt, und es kam ihm vor, als erblicke er so etwas wie einen Christstollen mitten auf dem Tisch. Als der Schlitten hielt, erhob sich der Fuchs gerade. Er war offensichtlich der älteste unter den Anwesenden. Er hielt sein Glas in der Pfote und wollte eine Rede halten. Doch kaum hielt der Schlitten und die Versammelten erkannten, wer darin saß, wich alle Fröhlichkeit aus ihren Mienen. Vater Eichhörnchen blieb der Bissen in der Kehle stecken, er hatte die Gabel halb erhoben; einer der Satyre vergaß gar, die Gabel aus dem Mund zu nehmen, und die kleinen Eichhörnchen fingen an, vor Schreck zu quieken.
»Was soll das bedeuten?« fragte die Hexenkönigin.
Keiner antwortete.
»Sprich, Ungeziefer! Oder soll mein Zwerg euch mit seiner Peitsche die Zunge lösen? Was soll diese Völlerei, diese Verschwendung und Ausgelassenheit? Woher habt ihr das?«
»Verzeihung«, begann der Fuchs. »Man schenkte es uns, ich bin so frei, auf die Gesundheit Eurer Majestät zu trinken.«
»Wer schenkte es euch?« fragte die Zauberin wieder.
»Der Weih – der Weih – der Weihnachtsmann«, stammelte der Fuchs.
»Was?« schrie die Hexe, sprang vom Schlitten und trat näher an die erschreckten Tiere heran. »Der war nicht hier! Der kann gar nicht hier gewesen sein! Was wagst du zu sagen? Sag, daß du gelogen hast, ich will dir sogar jetzt noch verzeihn.«
Da verlor eines der kleinen Eichhörnchen völlig den Kopf. »Doch war er da, doch war er da«, schrillte das Eichhörnchenkind und schlug mit seinem kleinen Löffel auf den Tisch. Edmund sah, wie sich die Hexe auf die Lippen biß und ihr ein roter Blutstropfen über das Kinn rann. Dann erhob sie ihren Stab. »Nicht doch, ach bitte bitte nicht«, schrie Edmund, aber obwohl er dagegenschrie, schwang sie den Stab, und die fröhliche Gesellschaft wurde zu Stein. Einige hielten ihre Steingabeln halbwegs zum Munde, und so blieben sie rings um den Steintisch und den versteinerten Christstollen sitzen.
»Und das ist für Ihn«, schrie die Zauberin und schlug Edmund heftig ins Gesicht, während sie wieder in den Schlitten stieg. »Ich werde Ihn lehren, sich für Verräter und Spione einzusetzen. Vorwärts, weiter!«
Zum erstenmal in dieser Geschichte bedauerte Edmund nicht nur sich selbst, sondern hatte Mitleid mit andern. Es dünkte ihn zu traurig, so versteinert dazusitzen, stille Tage und dunkle Nächte hindurch, Jahr um Jahr, bis Moos über sie wuchs und ihre Gesichter schließlich verwitterten.
Sie fuhren ohne Halt weiter. Aber bald merkte Edmund, daß der Schnee, über den sie hinglitten, viel nasser war als in der vergangenen Nacht. Er fror auch weniger, denn es nebelte. Der Nebel wurde dichter und wärmer, und der Schlitten glitt nicht mehr so mühelos dahin wie bisher. Zuerst glaubte er, die Rentiere seien erschöpft, doch bald erkannte er, daß dies nicht der Fall war. Der Schlitten schwankte und schleuderte und fuhr so holprig wie über Steine. Soviel der Zwerg auch auf die Rentiere einschlug, die Fahrt wurde langsamer und langsamer.
Dazu hörte Edmund ringsum wunderliche Laute, doch bei dem Rütteln und Stoßen, dem Geschrei des Zwerges und seinem Anfeuern der Rentiere konnte er nicht erkennen, was es eigentlich war, bis der Schlitten plötzlich festsaß, so fest, daß er nicht weiterkonnte. Als das geschehn war, blieb es einen Augenblick lang ganz still. In dieser Stille konnte Edmund endlich genauer dem andern Geräusch lauschen. Was war es nur? Es war ein wunderlich süßes Rieseln und Zwitschern, es war der Klang von fließendem Wasser, Murmeln, Plätschern und Sprudeln. Irgendwo unsichtbar in der Ferne rauschte es sogar. Er wußte nicht, warum, doch ihm hüpfte das Herz im Leibe.
Die Kälte war gewichen, näher, immer näher tönte es tropf, tropf, tropf, und als er einen Baum genau betrachtete, sah er, wie Schneelasten lautlos von ihm herunterglitten.