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Es war ein geradezu ohrenbetäubendes Geräusch, als zerschmetterte ein Riese eine riesige Platte.

»Was war das?« fragte Lucy und griff nach Suses Arm.

»Ich… ich… habe Angst, mich umzudrehn«, stammelte Suse.

»Sie tun ihm noch mehr Böses an!« schrie Lucy.

Und sie wandte sich um, Suse dabei mit sich reißend.

Der Sonnenaufgang hatte alle Farben und Schatten verändert, so daß sie zunächst das Wichtigste nicht bemerkten. Plötzlich sahen sie es: Der Steintisch war bei dem lauten Krachen in zwei Teile geborsten, und ein klaffender Sprung lief quer durch. Aslan war nicht mehr da.

»Oh, oh, oh«, klagten die beiden Mädchen und rannten zum Tisch zurück.

»Das ist zu gräßlich«, schluchzte Lucy. »Seinen Leichnam hätten sie doch in Frieden lassen können.«

»Wer hat das getan?« schrie Suse. »Was bedeutet das? Noch mehr Zauber?« »Jawohl«, sprach eine volle Stimme hinter ihrem Rücken. »Ein noch tieferer Zauber!«

Sie schauten sich um. Leuchtend in der aufgehenden Sonne, gewaltiger denn je vorher, stand Aslan da. Er selbst!

- Und er schüttelte seine Mähne, die anscheinend wieder gewachsen war.

»Oh, Aslan!« schrien die Kinder und starrten ihn beglückt und erschrocken an.

»Du bist also nicht tot, lieber Aslan?« fragte Lucy.

»Nicht mehr«, antwortete er.

»Und du bist kein Ge… Ge…?« fragte Suse mit zitternder Stimme. Sie brachte das Wort »Gespenst« nicht über die Lippen.

»Sehe ich so aus?« fragte Aslan. Er neigte sich und berührte mit den Lippen ihre Stirnen.

»Oh, du bist, du bist ganz wirklich, Aslan!« rief Lucy.

Und die beiden Mädchen umarmten ihn und bedeckten sein mächtiges Haupt mit Küssen.

Sobald sie sich etwas beruhigt hatten, fragte Suse: »Aber was bedeutet das?«

»Es bedeutet, daß die Hexe vom Urzauber wohl Kenntnis hatte, aber keine Ahnung von jenem tieferen Zauber, der noch weit hinter dem Urzauber waltet. Ihre Kenntnis reicht nur bis zum Anfang der Zeit; hätte sie ein wenig weiter dahinter schauen können, in das Schweigen und in die Finsternis vor der Zeiten Dämmerung, dann hätte sie den andern Zauberbann erspäht und hätte erkannt: wenn sich einer, der nichts verbrochen hat, freiwillig für einen Schuldigen opfert, dann bricht der Steintisch entzwei, und der Tod weicht zurück. Und nun…«

»Oh, fein«, rief Lucy. »Und was nun?« Sie sprang auf und klatschte in die Hände.

»Oh, Kinder«, rief der Löwe, »ich fühle meine Kräfte wieder! Fangt mich, wenn ihr könnt!« Seine Augen strahlten auf, und seine Glieder erbebten. Er schlug mit dem Schweif um sich. Dann duckte er sich, sprang hoch über ihre Köpfe und landete auf der andern Seite des Tisches.

Jauchzend, ohne recht zu wissen, warum, rannte Lucy zu ihm hinüber und versuchte ihn zu fassen, aber Aslan sprang wieder hoch, und eine tolle Jagd begann. Er hetzte sie rings um den Hügel herum. Es war aussichtslos, ihn zu fangen, nur seinen Schweif erwischten sie beinahe. Dann war er plötzlich dicht bei ihnen, schleuderte sie mit seinen mächtigen und schönen Samtpfoten in die Luft und fing sie wieder auf, und ebenso unvorhergesehen hielt er plötzlich inne, so daß sie übereinanderpurzelten. Ach, es war ja ein solch glücklich lachendes Durcheinander von Armen und Beinen, eine Ausgelassenheit, wie es sie eben nur in Narnia gibt. Und das merkwürdigste dabei war: Die Mädchen fühlten keinerlei Müdigkeit mehr, und als sie bald darauf schnaufend in der Sonne lagen, waren ihnen auch Hunger und Durst vergangen.

Da sagte Aslan: »Nun aber zu ernsteren Dingen! Ich habe das Bedürfnis, zu brüllen. Stopft euch lieber die Finger in die Ohren!« Dann erhob er sich und öffnete seinen Rachen.

Sein Anblick wurde so schrecklich, daß sie ihn kaum anzusehn wagten. Er brüllte! Die Bäume beugten sich vor seiner Stimme, wie das Gras auf der Wiese im Winde zittert. Dann sprach er: »Wir haben einen weiten Weg vor uns. Ihr dürft auf mir reiten.«

Er bückte sich, und so konnten die Kinder auf seinen warmen, goldenen Rücken steigen. Vorn saß Suse, die sich an seiner Mähne festhielt. Lucy saß dahinter und klammerte sich fest an Suse. Mit einem ungeheuren Satz erhob sich Aslan mit ihnen, und dann schoß er, schneller als das schnellste Roß, hügelabwärts in das Dickicht des Waldes hinein.

Dieser Ritt war wohl das Wunderbarste, was sie in Narnia erlebten. Seid ihr jemals auf einem Pferd Galopp geritten? Nun, stellt es euch vor, denkt daran, aber statt an klappernde Hufe und knirschendes Zaumzeug an den lautlosen Fall der riesigen Samtpfoten. Sie saßen nicht auf einem grauen, schwarzen oder kastanienbraunen Pferderücken, sondern auf goldenem Fell, und die Mähne flog rückwärts im Winde. Er lief doppelt so schnell wie das schnellste Rennpferd, aber dieses Pferd mußte man nicht zügeln, und es wurde niemals müde, über keinen Berg ging es langsamer. Er stürmte vorwärts, glitt niemals aus, strauchelte nie, fand sicher seinen Weg zwischen dichten Baumstämmen, sprang über Büsche und Hecken, er watete durch die schmalen Flüsse, den größten durchschwamm er.

Und sie ritten weder auf einer Straße noch in einem Park, noch am Strand oder in den Dünen, sondern sie ritten quer durch Narnia, mitten im Frühling, Buchenalleen hinunter und über Lichtungen von Eichen, durch wilde Obstgärten, an weißblühenden Kirschbäumen vorbei, an tosenden Wasserfällen vorüber, an bemoosten Felsen, an widerhallenden Höhlen, schwindelnde Grate hinauf und Steilhänge hinunter, in verwilderte Täler und über weite Flächen mit leuchtend blauen Blumen. Es war fast schon Mittag, als sie von einem steilen Berghang aus ein Schloß erblickten. Von dieser Höhe gesehn, glich es einem Spielzeugschloß mit lauter kleinen, spitzen Türmchen, aber der Löwe stürmte in solchem Tempo bergab, daß es jeden Augenblick größer und größer wurde, und bevor sie noch Zeit hatten, sich zu fragen, was das wohl für ein Schloß sein könnte, standen sie schon vor seinen Mauern. Nun sah es nicht mehr wie ein Spielzeug aus, sondern erhob sich finster drohend vor ihnen. Kein Menschengesicht schaute über den Festungswall, und die hohen Tore waren fest verschlossen. Aslan verringerte seinen Lauf nicht, sondern rannte wie aus der Kanone geschossen darauf zu. »Der Hexe Haus! Nun, Kinder, haltet euch fest.« Im nächsten Augenblick schien die ganze Welt kopfzustehn, und den Kindern war es, als drehe sich ihnen der Magen um. Der Löwe hatte sich zum gewaltigsten Sprung gesammelt, den er bisher mit ihnen gewagt hatte, und sprang, ach nein, wir wollen es lieber fliegen nennen, er flog regelrecht über die Schloßmauer.

Die beiden Mädchen waren atemlos, aber unversehrt.

Als er auf dem Boden landete, purzelten sie von seinem Rücken herab und befanden sich mitten in einem weiten gepflasterten Hof voll Steinfiguren.

WAS MIT DEN VERSTEINERTEN FIGUREN GESCHAH

»Welch merkwürdiger Ort!« rief Lucy. »All dies steinerne Getier und auch menschliche Figuren! Es ist wie in einem Museum.«

»Pst, pst«, warnte Suse. »Sieh doch, was Aslan tut.« Und wirklich! Er sprang zu einem Steinlöwen hin und blies ihn mit seinem Atem an. Ohne innezuhalten, strich er von einem zum andern, wedelte wie eine Katze mit dem Schweif um alle herum und blies gleich den Steinzwerg an, der – ihr erinnert euch doch noch –, nur wenig vom Löwen entfernt, diesem den Rücken zukehrte. Dann eilte er zu einer hohen steinernen Dryade, die hinter dem Zwerg stand, wandte sich blitzschnell seitlich zu einem steinernen Kaninchen auf der rechten Seite und lief zu zwei Zentauren hin. Doch da rief Lucy: »Oh, Suse, schau dir den Löwen an!«

Ihr habt sicher schon einmal gesehn, wie jemand ein brennendes Zündholz an das Papier hält, das zum Feuerfangen unter dem Holz im Ofen liegt. Erst scheint gar nichts zu geschehen, dann aber zuckt ein feiner Flammenstreifen am Rande des Papiers entlang. Und genau so geschah es hier. Eine Weile, nachdem Aslan den Steinlöwen angeblasen hatte, blieb er unverändert starr, dann begann ein dünner Streifen Gold an seinem weißen Marmorrücken entlangzuzüngeln, er verbreiterte sich und beleckte ihn, wie eine Flamme das Papier entzündet. Während sein Hinterteil noch versteinert war, schüttelte er schon die Mähne, und eine Steinfalte nach der andern wurde zu lebendigem Haar. Dann öffnete er seinen großen roten Rachen und ließ warm und lebendig ein beachtliches Gähnen hören. Nun erwachten seine Hinterbeine zum Leben, er hob eines und kratzte sich. Schließlich erblickte er Aslan, lief zu ihm hin, tanzte einen Freudentanz vor Entzücken, sprang an ihm empor und leckte sein Angesicht.