»Und daran teilnehmen, hoffe ich, Herr«, fügte der größte der Zentauren hinzu.
»Selbstverständlich«, bestätigte Aslan. »Jetzt müssen diejenigen, die sonst nicht mitkämen, die Kinder, Zwerge, kleinen Tiere, auf den Rücken der Großen reiten, also der Löwen, Zentauren, Einhörner, Pferde, Riesen und Adler. Diejenigen, die gute Nasen haben, müssen mit uns Löwen vorauseilen, um das böse Gesindel aufzuspüren. Macht schnell und ordnet euch!«
Das taten sie denn auch mit viel Getöse und Beifall.
Der Zufriedenste von allen war der andere Löwe. Der lief überall herum und tat so, als sei er mächtig beschäftigt. In Wirklichkeit aber erzählte er jedem, dem er begegnete: »Hast du gehört, was er sagte? Wir Löwen! Das sind er und ich. Wir Löwen! Das hab' ich so gern an Aslan. Kein Dünkel, keine Überheblichkeit, wir Löwen! Er meint damit sich und mich.«
Er lief so lange herum und wiederholte das, bis Aslan ihm drei Zwerge, eine Dryade, zwei Kaninchen und einen Igel aufgeladen hatte. Das brachte ihn ein bißchen zur Vernunft.
Ein großer Schäferhund half Aslan am meisten, die Schar in Reih und Glied zu ordnen. Als alles bereit war, zogen sie durch die neue Öffnung in der Schloßmauer aus. Zuerst kamen die Löwen und Hunde, nach allen Richtungen mit der Nase auf dem Boden schnuppernd, und da witterte auch schon ein großer Hund plötzlich die Fährte und schlug an. Nun war keine Zeit mehr zu verlieren. Alle Hunde, Löwen, Wölfe und alle anderen Jagdtiere verfolgten in schnellem Lauf, die Nasen auf der Erde, die Fährte. Die übrigen folgten, so schnell sie konnten. Es war ein Lärm wie auf einer englischen Fuchsjagd. Und gerade als sie um die letzte Windung eines engen, verschlungenen Tales kamen, hörte Lucy zwischen all dem Lärm noch einen anderen Laut. Das klang so gänzlich anders, daß sie ein unheimliches Gefühl überkam. Es war ein Schreien und Rufen, und Metall schlug an Metall.
Nun waren sie aus dem engen Tal heraus und sahen, was geschah. Peter und Edmund kämpften verzweifelt mit dem Rest von Aslans Getreuen gegen einen Haufen scheußlicher Gestalten. Suse und Lucy kannten sie aus der vergangenen Nacht, nur sahen sie jetzt im Tageslicht noch seltsamer, übler und mißgestalteter aus. Es schienen auch ihrer viel mehr zu sein. Peters Getreue deckten ihm den Rücken, aber es waren erschreckend wenige, und der ganze Kampfplatz war übersät mit Steinfiguren. Offenbar hatte die Hexe ihren Zauberstab benutzt. Augenblicklich jedoch gebrauchte sie ihn nicht, sondern focht mit ihrem Steinmesser. Sie kämpfte mit Peter, und beide schlugen so hart aufeinander ein, daß Lucy nur schwer begriff, was eigentlich geschah. Sie sah bloß das Steinmesser und Peters Schwert. Beide schwangen es so schnell hin und her, daß sie drei Messern und drei Schwertern glichen. Das kämpfende Paar stand in der Mitte. Wohin Lucy auch blickte, auf allen Seiten geschahen die schrecklichsten Dinge.
»Herunter von meinem Rücken, Kinder!« schrie Aslan.
Die beiden purzelten zu Boden, und mit einem Donner, der ganz Narnia von der westlichsten Straßenlaterne bis zum östlichen Meeresstrand erschütterte, stürzte sich die mächtige Gestalt des Löwen auf die böse Hexe.
Ihr Gesicht wandte sich ihm zu. Einen Augenblick lang sah Lucy ihren Ausdruck von Schrecken und Entsetzen, dann prallten Löwe und Hexe aufeinander.
Aber die Hexe unterlag, und gleich darauf durchbrachen die Kämpfer, die Aslan aus dem Schloß der Hexe befreit hatte, die feindlichen Linien. Die Zwerge mit ihren Äxten, die Hunde mit gebleckten Zähnen, der Riese mit seiner Keule – und auch seine Füße zertraten, was ihm in den Weg kam –, Einhörner mit spitzem Horn und die Zentauren mit Schwert und Huf. Peters ermüdete Heerschar jubelte auf, die Neuangekommenen brüllten jauchzend, und die Feinde wimmerten und heulten, daß der Wald vom Lärm dieses Schlachtgetümmels widerhallte.
DIE JAGD AUF DEN WEISSEN HIRSCH
Wenige Minuten nach ihrer Ankunft war der Kampf entschieden. Die meisten Feinde wurden von Aslan und seinen Gefährten im ersten Sturm überrannt, und als die Überlebenden merkten, daß die Hexe tot war, gaben sie den Widerstand auf oder suchten das Weite.
Lucy sah, wie Aslan und Peter sich umarmten. Peters Anblick befremdete sie, sein Gesicht war so blaß und ernst, als sei er viele Jahre älter geworden.
»Es war Edmunds Tat, Aslan«, sagte Peter. »Ohne ihn wären wir alle besiegt worden. Die Hexe verwandelte unsere Truppen rechts und links in Stein. Nichts konnte Edmund aufhalten. Er kämpfte sich an drei Menschenfressern vorbei, die Hexe wollte eben deine Leoparden versteinern, und als er bis zu ihr vorgedrungen war, zerschmetterte er mit dem Schwert blitzschnell ihren Zauberstab. Er war so klug, nicht zuerst auf sie loszuschlagen – den Fehler machten die andern alle –, sonst wäre auch er noch versteinert worden. Wir hatten schon genug Drangsal, Leid und Mühe. Als ihr Zauberstab zerbrochen war, besserte sich unsere Lage. Aber wir hatten schon vorher zu viele der Unsern verloren. Edmund ist schwer verwundet, wir müssen nach ihm sehn.«
Etwas abseits vom Kampfplatz fanden sie Edmund in der Obhut von Frau Biberin. Sein Mund stand weit offen, und sein Gesicht war grünlich bleich.
Da erinnerte sich Lucy zum erstenmal wieder an das kostbare Lebenselixier, das ihr der Weihnachtsmann geschenkt hatte. Sie konnte den Stöpsel kaum aus der Flasche ziehn, so sehr zitterten ihr die Hände; doch zuletzt gelang es, und sie träufelte einige Tropfen in ihres Bruders Mund.
Als sie noch immer angstvoll auf Edmunds blasses Gesicht blickte und wartete, ob der Saft schon geholfen hätte, mahnte Aslan: »Es gibt noch mehr Verwundete, Lucy!«
»Ja, ich weiß«, sagte Lucy ärgerlich. »Warte noch einen Augenblick!«
»Evastochter«, sagte Aslan mit ernster Stimme. »Die andern sind auch dem Tode nahe. Sollen noch mehr Geschöpfe Gottes für Edmund sterben?«
»Verzeih mir«, sagte Lucy, sprang auf und folgte ihm.
Und in der nächsten halben Stunde waren sie beide rastlos beschäftigt, sie, die Verwundeten zu retten, und er, die Versteinerten zu erlösen. Dann endlich war Lucy frei und kehrte zu Edmund zurück. Er stand wieder auf den Beinen, und nicht nur seine Wunden waren geheilt, sondern er sah weit besser aus als je zuvor, besser jedenfalls als seit dem ersten Jahr in der abscheulichen Schule. Damals waren seine schlechten Eigenschaften zum Vorschein gekommen. Nun aber war er wieder ganz der alte Edmund und konnte einem offen ins Gesicht blicken. Und hier, mitten auf dem Schlachtfeld, schlug Aslan ihn zum Ritter.
»Weiß er auch, was Aslan für ihn getan hat?« flüsterte Lucy Suse zu. »Weiß er, was Aslan in Wirklichkeit mit der bösen Hexe abgemacht hatte?«
»Pst, nein, natürlich nicht«, sagte Suse.
»Sollten wir es ihm nicht erzählen?« fragte Lucy.
»Nein, das wäre ja schrecklich für ihn. Überleg mal, wie dir in solchem Fall zumute wäre.«
»Das ist ganz gleichgültig. Er sollte es wissen«, beharrte Lucy, aber da wurden sie unterbrochen.
Zum Schlafen blieben sie in dieser Nacht, wo sie sich gerade befanden. Wie Aslan für alle Essen herbeischaffte, weiß ich nicht, doch irgendwie und irgendwo fand er das Nötige, und so saßen sie gegen acht Uhr abends alle im Gras um einen feinen Schmaus herum. Am andern Morgen begann der Marsch gegen Osten, den Fluß entlang, und am Tag darauf, ungefähr zur Teestunde, erreichten sie wirklich die Mündung des großen Flusses. Das Schloß Feeneden auf seinem kleinen Hügel stand hochgetürmt über ihnen, davor der Strand mit Klippen und kleinen Meerbuchten, mit Schilfgras und dem Geruch des Meeres und meilenweit blaugrüne Wogen, die sich immer und immer wieder auf dem Strande brachen. Ach, und der Schrei der Möwen! Habt ihr ihn je gehört? Erinnert ihr euch daran?