HINEIN IN DIE WÄLDER
»Wenn die Macready mit all ihren Leuten nur endlich weiterginge«, flüsterte Suse.
»Mein Bein ist schon eingeschlafen.«
»Und dieser ekelhafte Kampfergeruch«, stöhnte Edmund.
»Sicherlich stecken alle Manteltaschen mit dem Mottenzeug voll«, klagte Suse.
»Mich sticht etwas im Rücken«, stellte Peter fest.
»Mir scheint, es wird plötzlich ganz kalt«, sagte Suse.
»Es scheint nicht nur so, es ist kalt«, versicherte Peter.
»Und obendrein auch noch feucht. Was ist nur hier los? Ich sitze in etwas Nassem, und jede Minute wird es nasser.« Er sprang auf die Füße.
»Sehn wir, daß wir hinauskommen«, schlug Edmund vor. »Die sind längst weg.«
»O Gott!« schrie Suse plötzlich, und alle fragten, was in sie gefahren sei. »Ich lehne an einem Baum! Und seht nur, dort hinten wird es heller.«
»Heiliger Bimbam!« rief Peter. »Du hast recht. Und da, und da… und da, rundherum nichts als Bäume! Das Nasse um uns ist Schnee. Ei, ich glaube, wir sind in Lucys Wald geraten.«
Nun gab es keinen Zweifel mehr. Die vier Kinder blinzelten in die Helligkeit eines Wintertages. Hinter ihnen hingen Mäntel auf Kleiderhaken, und vor ihnen standen schneebedeckte Bäume.
Peter wandte sich sofort an Lucy. »Verzeih, daß ich dir nicht geglaubt habe. Es tut mir wirklich leid. Willst du mir die Hand geben?«
»Gern!« Sie gab ihm die Hand.
»Aber was machen wir nun?« fragte Suse.
»Was wir machen? Wir gehn natürlich los und schaun uns um.«
»Huhu.« Suse stampfte mit den Füßen. »Das ist aber hübsch kalt hier. Wollen wir nicht einige Mäntel mitnehmen? »Sie gehören uns nicht«, gab Peter zu bedenken und sah die anderen an.
»Keiner hätte etwas dagegen«, sagte Suse. »Wir tragen sie doch nicht aus dem Haus fort. Wir nehmen sie sogar nicht einmal aus dem Wandschrank.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht, Su«, gab Peter lachend zur Antwort.
»So, wie du es darstellst, kann uns natürlich keiner vorwerfen, wir hätten sie gestohlen, solange wir sie in dem Wandschrank lassen, dort, wo wir sie gefunden haben. Und es scheint so, als ob das ganze Land im Wandschrank läge.«
Suses Vorschlag war vernünftig, und sie führten ihn augenblicklich aus. Die Mäntel waren reichlich groß für sie. Sie hingen ihnen bis an die Fersen und glichen mehr Krönungsgewändern als Mänteln. Aber sie waren herrlich warm, und die Kinder waren überzeugt, jeder von ihnen passe in dieser Aufmachung viel besser in die Landschaft.
»Jetzt könnten wir so tun, als seien wir Polarforscher« schlug Lucy vor.
»Wir brauchen gar nicht so zu tun, es ist ohnedies aufregend genug«, sagte Peter und schritt entschlossen ihnen voraus in den Wald hinein. Über ihren Köpfen hingen schwere dunkle Wolken. Wahrscheinlich würde es vor Einbruch der Nacht noch weiterschneien.
Da schlug Edmund auf einmal vor: »Hallo, sollten wir uns nicht ein wenig weiter nach links halten, damit wir die Straßenlaterne nicht verfehlen?« Er hatte einen Augenblick lang vergessen, sich so zu verhalten, als sei er noch nie in diesem Wald gewesen. Kaum war das Wort seinem Mund entschlüpft, als er merkte, daß er sich verraten hatte. Sie blieben stehn und starrten ihn an.
Peter stieß einen Pfiff aus. »Also du warst doch schon hier! Damals, als Lucy erzählte, daß sie dir hier begegnet ist. Aber du nanntest sie eine Lügnerin.« Tiefes Schweigen folgte. »Pfui Teufel, was für eine Gemeinheit!« Peter zuckte die Achseln und sagte nichts mehr. Was sollte man auch mehr darüber sagen, und gleich darauf setzten alle vier ihren Weg fort.
Das werde ich diesem hochmütigen, selbstgefälligen Pack noch heimzahlen, dachte Edmund heimlich bei sich.
»Wohin gehn wir eigentlich?« fragte Suse, nur um das Thema zu wechseln.
»Lu sollte den Führer machen«, rief Peter. »Sie hat es wirklich verdient. Willst du, Lu?«
»Wie wär's, wenn wir Herrn Tumnus besuchten?« fragte Lucy. »Das ist der reizende Faun, von dem ich erzählte.«
Sie waren damit einverstanden, marschierten flink weiter und stampften mit ihren Füßen durch den Schnee.
Lucy erwies sich als gute Führerin. Zunächst war sie unsicher, ob sie den Weg noch fände, aber bald erkannte sie einen sonderbar aussehenden Baum wieder, an einer andern Stelle einen Baumstumpf, und so geleitete sie die andern bis dorthin, wo der Boden uneben wurde, in das kleine Tal hinein und zuletzt vor die richtige Tür, vor die Höhle des Herrn Tumnus. Aber hier erwartete sie eine schreckliche Überraschung. Die Tür war aus den Angeln gerissen und ganz zerbrochen. Im Innern der Höhle war es dunkel und kalt. Es roch sumpfig und modrig, der Ort schien schon eine Zeitlang unbewohnt. Durch den Eingang war der Schnee hineingeweht. Er haftete am Boden, vermengt mit schwarzer Holzkohle und Aschenresten des toten Feuers. Irgend jemand hatte anscheinend alles absichtlich durch den Raum gezerrt und dann zerstampft.
Das Geschirr lag zerschlagen am Boden, und das Bild vom Vater Faun war mit einem Messer in Stücke geschnitten.
»Das ist ja eine schöne Bescherung«, sagte Edmund.
»Wozu sind wir eigentlich hergekommen?«
»Was ist dies hier?« Peter bückte sich. Er hatte einen Papierzettel entdeckt, der durch den Teppich hindurch an den Boden genagelt war.
»Steht etwas darauf geschrieben?« wollte Suse wissen.
»Es scheint so«, antwortete Peter, »doch in diesem Licht kann ich es nicht lesen. Gehn wir hinaus.«
Das taten sie und umringten Peter, während er die folgenden Worte vorlas:
Der ehemalige Bewohner dieses Grundstückes, der Faun Tumnus, befindet sich in Haft, in Erwartung eines Gerichtsverfahrens wegen Hochverrats, begangen gegen Ihre Kaiserliche Majestät Jadis, Königin von Narnia auf Feeneden, Herrscherin über die Einsamen Eilande usw….
Obendrein begünstigte er die Feinde Ihrer Majestät, beherbergte Spione und schloß mit Menschen Brüderschaft.
Gezeichnet: Maugrim
Hauptmann der Geheimpolizei
Lang lebe die Königin!
Die Kinder starrten einander an.
»Ich möchte lieber nach Hause. Ich mag nicht mehr hierbleiben«, sagte Suse.
»Wer ist diese Königin, Lu?« fragte Peter. »Weißt du etwas von ihr?«
»Soviel ich weiß, ist sie überhaupt keine richtige Königin«, antwortete Lucy. »Sie ist eine scheußliche Hexe. Alle Waldbewohner hassen sie. Sie hat das ganze Land verzaubert, so daß es immerzu Winter ist und niemals Weihnachten.«
»Gott weiß, was da alles noch passieren wird«, klagte Suse, »was wollen wir schon hier! Vielleicht wird's noch schlimmer. Jede Minute wird es kälter, und wir haben nichts zum Essen mitgenommen. Wir sollten lieber heimgehn.«
»Oh, das können wir doch nicht!« rief Lucy. »Seht ihr das nicht ein? Nach alldem können wir nun erst recht nicht heimgehn. Ich bin doch daran schuld, daß der arme Faun in solche Schwierigkeiten geraten ist. Er beschützte mich vor der Hexe. Er zeigte mir den Weg zurück. Das bedeutet ja: den Feinden der Königin beistehn und mit Menschen Brüderschaft schließen. Selbstverständlich müssen wir versuchen, ihn zu befreien.«
»Nichts werden wir versuchen!« schrie Edmund.
»Hätten wir lieber etwas zu essen!«
»Du hältst den Mund!« befahl Peter, der auf Edmund noch sehr böse war. »Was meinst du, Suse?«
»Ich habe das schreckliche Gefühl, daß Lucy recht hat«, meinte Suse, »eigentlich möchte ich keinen Schritt weiter tun und wünschte, wir wären niemals hierhergekommen, aber ich glaube, wir müßten was unternehmen für diesen Herrn… wie war doch sein Name… ich meine, für den Faun.«