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»Das ist ja alles schön und gut, Lee«, sagte Smith. »Doch ich finde, Sie reden entweder viel zu viel oder viel zu wenig.«

»Ich will Sie nur warnen.«

»Gäbe es wirklich einen Grund dafür, brauchten Sie sich an kein Versprechen gebunden zu fühlen. Mich jedenfalls könnte kein noch so heiliges Gelübde dazu zwingen, einen Verbrecher zu decken.«

»Gut, aber ich kann nichts gegen ihn ausrichten, ich kann Sie nur warnen.«

»Sie müßten mir schon sagen, wovor.«

»Vor Bellingham.«

»Das ist doch kindisch. Warum sollte ich mich vor ihm oder vor irgend jemand anderem fürchten?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann Sie nur inständig bitten, sich ein anderes Zimmer zu suchen. Sie sind in Gefahr. Ich will noch nicht einmal sagen, daß Bellingham es darauf anlegt, Ihnen zu schaden. Doch ob er will oder nicht, er ist ein gefährlicher Mann für jeden, der in seiner Nähe ist.«

»Vielleicht weiß ich mehr, als Sie glauben«, sagte Smith und sah gerade in Lees besorgtes Jungengesicht.

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, daß Bellingham nicht allein in seinem Zimmer ist?«

Monkhouse Lee sprang erschrocken von seinem Stuhl auf.

»Was? Sie wissen es?« hauchte er.

»Eine Frau.«

Lee ließ sich seufzend auf seinen Stuhl zurückfallen. »Meine Lippen sind versiegelt«, sagte er. »Ich darf nicht reden.«

»Wie dem auch sei«, sagte Smith und erhob sich, »ich kann es mir nicht erlauben, vor Angst aus einer Wohnung zu fliehen, die ansonsten optimal für mich ist. Ich würde mir zu komisch dabei vorkommen, mit meinen ganzen Büchern und Gerümpel umzuziehen, nur weil Sie mir erzählen, daß Bellingham irgendwie, wie, wollen sie ja nicht sagen, gefährlich ist. Ich werde einfach mein Glück versuchen und bleiben, wo ich bin, außerdem ist es schon fast fünf, ich muß Sie bitten, mich zu entschuldigen.«

Er verabschiedete sich kurz und machte sich in der milden Frühlingsluft auf den Heimweg. Wie jeder andere kräftige Mann, der, ganz der Realität verhaftet, in seiner Situation wäre, bedroht von einer unwirklichen, unfaßbaren Gefahr, fühlte er sich halb beunruhigt und halb belustigt.

Einen kleinen Luxus mochte sich Abercrombie Smith nicht verwehren, steckte er auch noch so tief in der Arbeit. Zweimal die Woche, dienstags und freitags, spazierte er hinaus nach Farlingford, anderthalb Meilen außerhalb von Oxford, um Doktor Plumptree Peterson zu besuchen. Peterson war ein alter Freund seines älteren Bruders Francis, und er war ein glücklicher Junggeselle mit allem, was dazugehört, einem guten Weinkeller und einer noch besseren Bibliothek, was ihn zum geeigneten Mann machte, einen überarbeiteten Studenten aufzumuntern. Zweimal die Woche ging Smith also auf die schattige Landstraße, um eine entspannende Stunde bei einem Glas Portwein in Petersons Studierzimmer zu verbringen, wo man den neuesten Universitätsklatsch und die aktuellen Entwicklungen in, der Medizin besprach.

Am Tage nach seinem Gespräch mit Monkhouse Lee schloß Smith seine Bücher um Viertel nach acht, um sich auf den Weg zu seinem Freund Peterson zu machen. Zufällig fiel sein Blick aber auf die Bücher, die Bellingham ihm geliehen hatte, und das Gewissen plagte ihn, weil er sie noch nicht zurückgegeben hatte. Mochte der Mann auch ein Ekel sein, die Gebote des Anstands mußte er auch ihm gegenüber einhalten. Er ging also hinunter und klopfte an seine Tür. Keine Antwort; doch die Tür war nicht abgeschlossen. Smith war erleichtert, sich nicht mit seinem Nachbarn unterhalten zu müssen. So ging er hinein und legte die Bücher mit seiner Visitenkarte auf Bellinghams Schreibtisch.

Obwohl das Licht nur schwach brannte, konnte er alle Einzelheiten im Zimmer erkennen. Alles war, wie er es kannte - der Fries, die Götterstatuen, das Krokodil an der Decke und die Papiere und getrockneten Blätter, die auf dem Tisch verstreut lagen. Der Mumiensarg stand aufrecht an der Wand, nur die Mumie selbst war nirgendwo zu entdecken. Nichts deutete darauf hin, daß außer Bellingham noch jemand in dem Zimmer wohnte, und als er den Raum verließ, hatte er das Gefühl, daß er ihm vielleicht Unrecht getan hatte. Wenn Bellingham irgend etwas zu verbergen hätte, würde er sich bestimmt hüten, seine Tür offen zu lassen, so daß jeder ein-und ausgehen konnte, wie er wollte.

Im Treppenhaus war es stockfinster, Smith ging vorsichtig die ausgetretenen Stufen hinunter. Plötzlich merkte er, wie irgend etwas in der Dunkelheit an ihm vorbei huschte. Es war kaum wahrnehmbar, nur ein Luftzug, der ihn streifte. Er blieb stehen und lauschte; draußen spielte der Wind im Laub, sonst konnte er nichts hören.

»Sind Sie es, Styles?« rief er.

Keine Antwort. Vielleicht war es nur eine Windböe, die das alte Gebälk ächzen und krachen ließ. Und doch hätte er schwören können, daß soeben jemand direkt an ihm vorbei die Treppe hinaufgelaufen war und ihn am Ellbogen gestreift hatte. Er war immer noch ganz benommen, als er ins Freie trat und den Eingang des Turmes hinter sich schloß.

»Bist du es, Smith?« Ein Mann kam über die sanft gewehte Wiese auf ihn zugelaufen.

»Hastie, Hallo!«

»Um Gottes willen, Smith, komm sofort mit! Man hat Lee aus dem Fluß gefischt! Der Arzt ist nicht zu erreichen. Du mußt unbedingt helfen, vielleicht lebt er noch.«

»Habt ihr Brandy?«

»Nein.«

»Wir müssen welchen mitnehmen. Auf meinem Tisch steht noch eine Flasche.«

Smith hetzte die Treppe hinauf, nahm immer drei Stufen auf einmal, ergriff die Schnapsflasche und wollte schnellstens wieder unten sein, doch als er an Bellinghams Zimmer vorbei wollte, bot sich ihm ein Anblick, der ihn auf dem Treppenabsatz erstarren ließ.

Die Tür, die er vorher hinter sich geschlossen hatte, stand jetzt weit offen, das spärliche Licht fiel direkt auf den Mumiensarg. Vor drei Minuten war er noch leer gewesen, das konnte er schwören. Nun aber starrte er dem grausigen Leichnam, der aufrecht in seiner Kiste stand, ins grimmige, schwarze Gesicht. Der Körper war vollkommen steif und leblos, doch diese Augen - war da nicht noch ein Funken Leben, ein Schimmer von Bewußtsein in diesen bösen kleinen Augen, die tief in ihren schwarzen Höhlen steckten? - Smith war so erschrocken und verwirrt, daß er alles vergaß und erst wieder zu sich kam, als er die Stimme seines Freundes hörte.

»Wo bleibst du, Smith!« rief er. »Es geht um Leben und Tod. Beeil dich!« Als der Medizinstudent endlich unten war, redete er aufgeregt weiter. »Wir müssen einen Sprint einlegen. Es ist keine Meile, in fünf Minuten sollten wir da sein. Jetzt geht es um mehr als einen Pokal.« Nebeneinander schossen sie durch die Dunkelheit und ließen nicht nach, bis sie dampfend und erschöpft die kleine Hütte am Fluß erreicht hatten. Lee lag schlaff und durchnäßt wie eine angespülte Wasserpflanze auf dem Sofa, sein schwarzes Haar war bedeckt mit Wasserklee, und auf seinen stahlblauen Lippen lag feiner, weißer Schaum. Neben ihm kniete sein Studienfreund Harrington und versuchte, die durchgefrorenen Glieder warmzureiben.

»Ich glaube, er lebt noch«, sagte Smith, während seine Hand auf Lees Brust lag. »Halte dein Uhrglas vor seine Lippen. Da, es beschlägt. Nimm du den anderen Arm, Hastie, und mache es wie ich, dann werden wir ihn bald zurückgeholt haben.«

So füllten und leerten sie die Lungen des Bewußtlosen zehn Minuten lang. Dann lief ein Zittern durch den schlaffen Körper, seine Lippen zuckten, und er öffnete schließlich die Augen. Die drei Studenten ließen einen Freudenschrei los.

»Wach auf, Alter. Du hast uns schon genug erschreckt.«